Mit 19 Jahren beschloss ich, Tänzerin zu werden. Die Entscheidung brach aus mir heraus wie ein Sturzbach der Leidenschaft, ohne dass ich das Gefühl hätte beschreiben können oder sagen, woher es gekommen war. Auch heute noch erscheinen mir Worte unzulänglich. Auf einmal wusste ich, was Berufung bedeutet. Und ich beschloss, dem Ruf zu folgen. Es war aufregend, zwei bis drei Tanzstunden am Tag zu besuchen, in kleinen Theatern und Kunst-Kellern aufzutreten, die Größen der Modern Dance Szene auf der Bühne zu beobachten und an den Fortgeschrittenen-Kursen jener Ikonen teilzunehmen. Es war wundervoll, ich ließ mich mitnehmen auf eine Reise, bei der ich so vieles über mich selbst und über die Gaben lernte, die mir vom Meister der Schöpfung mitgegeben worden waren.
Zehn Jahre später – geschieden und alleinerziehend – stand ich da, ohne eine sichere Einkommensquelle, ohne vernünftige Krankenversorgung, weder für mich noch für mein Kind und ohne Erspartes. Bei all den Kosten, die damit verbunden waren, konnte ich mir keine Wohnung leisten und auch keine KITA, sodass ich hätte arbeiten können. Natürlich hat auch keine KITA der Welt geöffnet während der Arbeitszeiten von darstellenden Künstlern. Pleite und ohne eine Alternative zog ich wieder bei meinen Eltern ein. Man könnte nun fragen, ob ich überhaupt gut war. Die Wahrheit ist, dass es mir nie an Engagements fehlte. Von Beginn an, arbeitete ich ständig. Ich studierte und ich arbeitete. Und ich musste etwas an mir gehabt haben, denn bereits früh während meines Studiums wurde ich für Projekte angefragt. Ich liebte es und ich sage es noch einmal: Ich arbeitete wirklich hart. Wir alle taten das. Aber wir probten über viele Wochen hinweg, trafen uns viele Male die Woche und bekamen pro Aufführung 50$. Und wir konnten uns glücklich schätzen, wenn ein Projekt mehr als drei Mal aufgeführt wurde. Proben wurden so gut wie nie vergütet und wenn sie doch einmal bezahlt wurden, war es rein symbolisch. Einen den Lebensunterhalt abdeckenden Mindestlohn gab es nicht. Wir gaben Unterricht, um wenigstens ein bisschen so etwas wie regelmäßiges Einkommen zu haben, aber wir wurden pro Schüler bezahlt und nur für die Stunden, die wir tatsächlich unterrichteten. Keine Stunden, kein Geld, keine Kontinuität. Und da in freien Tanzschulen die Anzahl der Schüler ohnehin beständig schwankte, war auch das Gehalt im selben Maße unbeständig. Nein, ich mache nicht die freischaffenden Choreographen, Komponisten und Autoren dafür verantwortlich. Jene kreativen Köpfe, die selber mit ihren Finanzen zu kämpfen haben und auf andere Künstler angewiesen sind, um ihre Ideen zum Leben zu erwecken. Ich selbst habe beide Seiten dieser Medaille kennengelernt. Aber die Wahrheit ist, dass ich mehr in meine Arbeit hineingesteckt habe, als ich je rausbekam. Infolgedessen habe ich bereits als Kellnerin, Hostess und Model gearbeitet. Ich habe Datenbanken für Museen und Theater auf dem Computer erstellt (ja tatsächlich, damals als es noch ganz simpel war). Ich war Verkäuferin, Bankangestellte, habe Darlehen vergeben, Buchhaltung gemacht, auf Kinder aufgepasst und die Akten fauler Kredite sortiert… Sicherlich habe ich irgendetwas vergessen und - bin dankbar für die Gedächtnislücke! Heute bin ich Sängerin und habe noch immer kein Geld. Keines, das nennenswert wäre jedenfalls. Früher war mir diese Tatsache peinlich, jetzt, nicht mehr. Mir ist in den letzten Jahren bewusst geworden, dass meine finanzielle Situation eine direkte Konsequenz von gesellschaftlichen Konstrukten, von der Bewertung der Güter aller Art, sowie von Einkommenshierachien ist, die weit zurück reichen. Das Problem ist nicht, dass ich das falsche Berufsfeld gewählt habe. Ich schätze mich glücklich, diese Arbeit machen zu können und es freut mich, wenn meine Arbeit Herzen berührt. Das erfüllt wiederum mein Herz. Das Problem liegt in den Strukturen einer Gesellschaft, welche vor Jahrhunderten beschloss, dass Künstler abhängig sind von der Laune einer Bevölkerung (oder bestimmten Mitgliedern derselben), die vielleicht versteht, wer sie ist, was er sagt und aus welchem Blickwinkel sie die Welt betrachten – oder es eben auch nicht verstehen. Viele Künstler werden nicht anerkannt bis sie tot sind und jemand anderes viel Geld verdient an der Arbeit, mit welcher sie sich Tage und Nächte lang herumgequält haben. Aber wie sieht es aus mit der Vermögenslage in der Welt der Künstler? So zu tun, als ob das Künstlertum nicht elitär sei, so zu tun, als ob diese Welt gerecht sei und fair, das würde bedeuten: die Wahrheit zu verleugnen. Es gibt einige wenige von uns, die - ob durch Zufall oder aufgrund glücklicher Umstände - Unmengen an Geld verdienen, während die meisten anderen sich Sorgen machen müssen, ob wir nächsten Monat, oder nächstes Jahr unsere Rechnungen werden bezahlen können. Diejenigen Künstlerinnen und Künstler, die der elitären Klasse angehören, sind nicht die einzigen mit Talent und Leidenschaft und keinesfalls die einzigen, die gewillt sind, sie zu nutzen. Aber weil wir in der Illusion leben, die Welt sei eine Leistungsgesellschaft, werden die Verhältnisse nicht nur als zulässig angesehen, sondern auch als fair akzeptiert. Es gibt eine kleine Mittelschicht, die in etablierten Institutionen arbeitet – Universitäten, Konservatorien, mit öffentlichen Mitteln unterstützten Ensembles, wie städtische Orchester, Tanz- und Theaterkompanien und dergleichen. Aber ihre Existenz gleicht die enorme Kluft zwischen Arm und Reich in der Künstlerwelt nicht aus. Wir suchen nach Möglichkeiten, um in unserem Berufsfeld tätig zu bleiben. Aber die Spanne dessen, was den sich abmühenden Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung steht, reicht von unzulänglich bis lächerlich. Wir sollten nicht unterrichten müssen, wenn wir dafür keine Neigung verspüren und besonders, wenn wir dafür nicht ausgebildet sind. Pädagogik ist eine ganz eigene Berufung und sollte auch als solche respektiert werden. Wir sollten nicht in Wettkampfszenarien gesteckt werden, wo wir gegeneinander um Anerkennung ringen zur voyeuristischen Unterhaltung und für einen erbärmlichen Lohn, mit dem wir – vielleicht – ein weiteres Jahr lang überleben können. Wir werden nicht Künstler, um Wettkampfsport zu betreiben. Wir sollten nicht abhängig sein von einem Partner oder einer Partnerin mit einem auskömmlichen Verdienst, nur damit wir überhaupt die Möglichkeit haben, unsere Arbeit zu tun. Eine Liebesbeziehung sollte frei sein von solcher Belastung. In Gesprächen mit Künstlerkolleginnen und -kollegen wird immer wieder deutlich, dass unsere beste Arbeit viel zu oft eine ohne Vergütung ist. Aber, die sich lohnenden Engagements bestimmen, was wir tun und zu häufig bleibt unser Inneres dabei außen vor. Aus purer Notwendigkeit verfallen wir der Mittelmäßigkeit und Bedeutungslosigkeit und unser Geist wird ausgelaugt. Nur im Glücksfall kommen Bezahlung und Originalität zusammen. Jedoch auf Glück angewiesen zu sein als Daseinsform, das ist, gelinde gesagt, eine recht bedenkliche Angelegenheit. Wir brauchen einen existenzsichernden Lohn. Es war während der Kampagne zu den Wahlen des Präsidentschaftskandidaten 2020 in den USA, dass ich zum ersten Mal den Begriff vom Bedingungslosen Grundeinkommen (auf englisch UBI) hörte. Ich war sofort skeptisch. Der Blick in die Geschichte zeigte, dass frühe gemeinschaftlich orientierte Gesellschaftsformen das Konzept einer wechselseitigen Fürsorge schätzten, und dass das gegenwärtige Wohlfahrtssystem, wenn auch sehr unzureichend, eine Form dieses Konzeptes ist. Aber das hier war anders. Die Idee ging nicht von der Not (per se) aus, aber eher von der Grundüberzeugung, dass jeder Mensch ein unbestreitbares Recht auf Einkommen hat. Zugegeben, die Skepsis entsprang meinem Misstrauen gegenüber Machthabern in Politik und Wirtschaft, die in meinen Augen nicht gewillt sind, etwas abzugeben, außer, wenn sie es zu ihrem Vorteil manipulieren und Gewinn daraus schlagen können. Aber die Idee wollte nicht mehr aus meinem Kopf. Abgesehen von Manipulation könnte das Bedingungslose Grundeinkommen die Antwort, oder zumindest Teilantwort auf die finanzielle Misere der Kunstschaffenden sein. Wer von uns würde sie nicht kennen, die Diskussionen mit Eltern, Partnern, Freunden, Lehrern etc., die - fairerweise gesagt - im Allgemeinen nur unser Bestes wollen, die Debatten über die unvermeidlichen Geldsorgen, die einhergehen mit der Entscheidung, Kunst zum Beruf zu machen: „Sei vernünftig! Glaubst du wirklich, dass du eine der wenigen sein wirst, die es schaffen? Viele talentierte Menschen werden übersehen.“ - Völlig richtig und: völlig ungeheuerlich! Sicherlich, ich sehe die Schwierigkeit, wenn dieses neue System eingeführt werden sollte. Wie definiert und identifiziert man einen Künstler? Nach welchen Kriterien wird ermittelt, ob jemand den Titel eines Künstlers verdient hat? An welchem Punkt seiner oder ihrer Entwicklung? Und wer entscheidet darüber, wer diesen Kriterien entspricht? Das alles sind Fragen, die gestellt werden müssen. Mehr noch, gibt es eine Mindestgrenze für Veröffentlichungen der eigenen Kunst? Innerhalb welcher Zeitspanne? Welche Rolle spielen Popularität und Beliebtheit? Sollten sie überhaupt eine Rolle spielen? In der Tat: Kann Authentizität von Kunst überhaupt mit Begriffen der Bürokratie gefasst werden? In Wirklichkeit: Nein! In meinem Studium definierten wir Kunst als ein Cluster - eine Sphäre, die die Elemente Intention, Können, Authentizität, Originalität und Klarheit der Stimmungslage und Spiritualität als Grundrezept beinhaltet, von jedem einzelnen Künstler in Entfaltung seiner individuellen Kreativität ausgelotet, bemessen und zusammengestellt. Die authentische Stimme eines Künstlers, einer Künstlerin, egal welcher Form von Kunst sie sich bedienen – Worte, Farben, Klang, Bewegung und Kinesik; und alle daraus resultierenden Mischformen – lebt im menschlichen Bewusstsein. Sie kann öffentliche Meinungen und das Denken verändern. Wenn sie von einer echten und ehrlichen Überzeugung herrührt, kann diese Stimme motivieren und inspirieren. Sie kann aus Teilnahmlosigkeit Eifer machen und ein Zögern in Taten verwandeln. Ihr Geschäft ist Erhellung und Reflexion. Der Gesellschaft, aus der sie erwächst, den Spiegel vorhalten. Die verborgenen, missachteten Details unter die Lupe nehmen. „So ist es!“ in Frage stellen und „Was ist, wenn?“ abwägen. Dies sind immaterielle Werte. Und sie müssen es bleiben. Zu versuchen, sie in messbare Formen zu bringen, das schadet nicht nur der Kunst, sondern auch all jenen potentiellen Künstlern, deren kreativer Instinkt erst gerade erwacht. Deshalb: Bedingungsloses Grundeinkommen! Nichts von alledem kann man tun, wenn man Hunger leidet, oder Angst hat, irgendwann aus der Wohnung geworfen zu werden, oder schlicht: sich mit der Person, die man liebt, über Geld streitet. Auch wenn künstlerische Konzepte nicht in bürokratische Formen passen: unsere Bedürfnisse sind so konkret wie die aller anderen. Doch dies ist keine Arbeit für Bänker, Schatzmeister, Unternehmensmogule, Businessleute, Administratoren oder Politiker. Wir, die das Nichtgreifbare zu fassen suchen, müssen diese Aufgabe anpacken. Wir, die verstehen, dass Kreativität Raum und Vertrauen und Besinnung und Freiheit braucht, müssen unsere Gemeinschaft bestimmen. Und vielleicht werden wir aufmerksam genug sein, keine Komitees zu bilden, die neue Eliten schaffen, aber stattdessen unsere Tore öffnen für jene kreativen Reisenden, die sagen: „Ich bin ein Künstler.“ Und es wird ausreichen, zu sagen: „Dann geselle dich zu uns.“ Und wir werden leben und zufrieden arbeiten in gegenseitiger Aufsicht und Obhut. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ WEITERES ZUM THEMA: Rutger Bregman - Utopien für Realisten
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