Künstler sind Menschen. Und wie alle anderen Menschen, haben auch wir unsere charakterlichen Mängel, Schwachstellen, lästigen Eigenarten und Momente von unüberlegter Blödheit. Auch wir können einem Tunnelblick verfallen und sind, genau wie unsere Mitmenschen, anfällig für engstirnige Überzeugungen, die unsere Werke in einseitige Haltungen einzwängen. Und manchmal wurde unsere Kreativität und unsere Arbeit wegen unserer Unachtsamkeit benutzt für Propaganda und ideologische Verklärung (der Propagandafilm der Nazis Triumph des Willens kommt einem dabei in den Sinn) oder um Stereotypen zu untermauern und Vorurteile zu schüren (Westerndramen wie Feuer am Horizont) oder falsche Vorstellungen und Lügen über vergangene, wie aktuelle Geschehnisse zu propagieren (man denke etwa an die glücklichen Sklaven in Vom Winde verweht). Das Leben kann fälschlich vereinfacht und wir von den Dingen, die unsere Aufmerksamkeit verdient hätten, abgelenkt werden (ich denke da an zahlreiche Fernsehprogramme, obwohl ich auch zugebe, dass ein vernünftiges Maß an Ablenkung durchaus wichtig ist für unsere geistige Gesundheit.)
Ja, Künstler sind auch nur Menschen. Und wie alle anderen Menschen, haben auch wir Ansichten, an denen wir festhalten und Richtwerte, von denen aus wir agieren. So stellen sich also die Fragen: Sollten wir nach Neutralität streben, um eben jene zuvor genannten Risiken zu umgehen? Ist das überhaupt möglich? Und wollen wir das? Nun, um es klar und deutlich zu sagen: Künstlerinnen und Künstler sind keine Journalisten, deren Verantwortung es ist, objektiv und sachlich zu sein. Wir sind nicht hier, um zu predigen und zu missionieren, wir sollten aber auch keine unparteiischen Zuschauer sein, die teilnahmslos die inneren Zusammenhänge und Mechanismen des Lebens analysieren. Die Idee persönlicher Distanzierung ist für uns unbrauchbar. Unsere Bereitschaft, persönlich und subjektiv zu sein, ist unsere größte Stärke. Unsere Bereitschaft, emotional und leidenschaftlich zu reagieren, ist der Faden, der uns mit unserem Umfeld verbindet. Und unsere Bereitschaft, den Ärger, die Furcht und den Hass unserer Mitmenschen nachzuempfinden, wie auch ihre Freude und Zufriedenheit, um uns dann auf das zu fokussieren, was darunter liegt, verleiht unserer Arbeit Tiefe und öffnet in uns, was nötig ist, um sowohl Psychopathen als auch Freigeister abzubilden, Reisende und jene, die gerne an ihrem Heimatort bleiben und alle, die sich in der bunten Mischung unserer Spezies dazwischen bewegen. Durch unsere Bereitschaft vermögen wir es, alle diese Personen, in ihrer universalen menschlichen Komplexität und Gleichheit anschaulich zu machen. Die Antwort ist also ein vorsichtiges „nein“ auf alle drei Fragen. „Der Künstler darf sich nicht fernhalten“ das waren die Worte von Paul Robeson, als er Spanien in den Kämpfen des Bürgerkrieges 1938 besuchte. Weiter sagte er: „...der Künstler steht vor einer Herausforderung und diese Herausforderung muss angenommen werden. Denn diese Kultur, das Vermächtnis unserer Vorfahren, ist das Fundament, auf welchem wir eine höhere und alles umfassende Kultur bauen.“ Diese idealistischen Worte rufen Künstlerinnen und Künstler auf, ihren oder seinen Zugang zu den Emotionen der Massen zu nutzen und die Möglichkeiten zu ergreifen, die ihr oder ihm zur Verfügung stehen, indem sie/er die Herzen der Menschen anrühren und gemeinsam mit ihnen die Vision einer besseren Welt teilen kann. All ihr Künstler! Erhebt euch mit dem Volk! Besteigt das Podest eurer Berufung. Legt Zeugnis ab und lärmt für alle, ob sie zuhören oder nicht. Als Paul Robeson 1949 in Schottland umgeben von Minenarbeitern sang „I dreamed I saw Joe Hill last night“, gab er ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Misere eine Stimme, die identisch mit der seinen war. Er fing in einem Lied die Notlage ganzer Generationen ein. Man kann es förmlich spüren - den Zusammenhalt, den sie verspürten und das Verständnis, das sie verband. Selbst durch eine Filmlinse hindurch, die seither 70 Jahre hat kommen und gehen sehen. Ein erleuchtender Moment. Die Gräuel der Lynchmorde, eingefangen in der trauervollen Betrachtung des Poeten Lewis Allen, Billy Holiday, die ihre Trauer in den Worten und der gefühlvollen Melodie von „Strange Fruit“ ausdrückte - die Bedeutung offenbarte sich allen, die es hörten. Die Bäume im Süden tragen verstörende Frucht Auf den Blättern und Wurzeln: überall Blut Schwarze Körper baumeln im Süden im Wind Verstörende Frucht tragen die Pappeln im Süden Ihr Schrei war das Flüstern ihrer Stimme. Ihr Podest war ein einzelner Scheinwerfer, der alles andere um sie herum ins Dunkel tauchte. Ihr Zeugnis war eingebettet in einen sorgfältig orchestrierten Augenblick, mit dem sie um ihrer Sicherheit Willen ihr Programm beendete und das Publikum zurückließ mit einer Anklage, nachlässig zu sein. Es war gefährlich, diese Wahrheit auszusprechen. Aber sie, als eine Künstlerin, die mutig und voller Integrität war, tat es und verschwieg sie nicht. "Sprecht über den Missbrauch der Sklaverei! Humbug! Die Sache selbst, ist der Kern allen Missbrauchs!" * Die Autorin und Abolitionistin Harriet Beecher Stowe konnte angesichts der Schrecken der amerikanischen Sklaverei nicht schweigen. Ich las „Onkel Toms Hütte“ zum ersten Mal vor knapp acht Jahren. Als Jugendliche in der Schule, boykottierte ich das Buch, gemeinsam mit vielen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, ohne es je aufgeschlagen zu haben. Damals war der Begriff „Uncle Tom“ eine der schlimmsten Beleidigungen in der schwarzen Gesellschaft und niemand wollte dieses heiße Eisen anrühren. Und wir fragten uns in unserer jugendlichen, rebellischen Art, was eine weiße Frau zum Thema Sklaverei schon zu sagen haben könnte - ein Thema, welches für uns ein so persönliches war. Aber in meinen reiferen Jahren beschloss ich, dass es an der Zeit war, dieses Werk zu lesen, das die folgenden Ereignisse stärker beeinflusste, als wir es damals erwartet hätten. Zu meiner eigenen Überraschung musste ich beim Lesen mehrere Male weinen. Aber wichtiger für mich als Künstlerin war, dass mir an einem bestimmten Punkt bewusst wurde: das Buch war nicht für mich oder die schwarze amerikanische Gemeinde bestimmt. Sie hatte das Buch für eine nichts wahrnehmende und uninformierte weiße Gesellschaft geschrieben, von denen viele womöglich ein gutes Herz besaßen, aber sich entweder absichtlich der Realität entzogen oder wirklich einfach nicht hinsahen. Es war ein Aufruf an Harietts Gemeinschaft, das Ausmaß des Bösen in einem System zu erkennen, welches allen schadete, die damit in Berührung kamen. Höre den Ruf und sieh durch meine Augen. Wie Hariette Stowe erschaffen alle Autoren Figuren, durch deren Augen wir sehen und durch deren Erlebnisse wir fühlen. Im Bereich von sozialer Gerechtigkeit und Wandel, werden wir durch die Figuren besonders hart mit der Realität konfrontiert, welche sie durch ausbeuterische Institutionen ertragen müssen. Charles Dickens gab uns Oliver Twist, um das Elend zu beleuchten, mit dem Armut Familien heimsucht, welches Leid für Kinder sie mit sich bringt und wie sie Menschen in Lebensweisen drängt, die sie unter anderen Umständen vermieden hätten. Er gab uns Ebenezer Scrooge als einen reichen Mann, herzlos und gefühlskalt, der sich in seiner Gier selbst im Recht sieht. Aber Dickens zeigt uns auch die Quelle, die seinem echten Schmerz zugrunde liegt und seinen Weg zur Erlösung. Victor Hugo gab uns Jean Valjean, dessen kriminelle Verstöße seinen bettelarmen Lebensumständen geschuldet waren und der trotz seines beispielhaften Lebens, keine Gnade erfährt vom Gesetz. Er gab uns Fantine, die von ihrer Umwelt drangsaliert wird, weil sie ein uneheliches Kind geboren hat – gefangen in einer moralistischen Gesellschaft, die geistige Güte verloren hat. In Harburg and Gorneys Lied „Brother, Can You Spare a Dime“, einem Leitmotiv für die Depression des 20sten Jahrhunderts, spricht ein Mann der Arbeiterklasse, der zum Bettler wurde, seine traurige Verwunderung darüber aus, dass das Land, für welches er so viel in seinem Leben geopfert hatte, ihn im Stich lässt. Hüter des Spiegels Wir halten der Welt den Spiegel vor und sagen ihr, dass sie hinsehen soll, um die Wahrheit zu erkennen. Dies ist eine gewaltige Verantwortung und wir alle müssen hart arbeiten, um ihr gerecht zu werden. Wie Journalisten müssen auch wir nachforschen und erkunden. Wie Prediger müssen auch wir den Geist der Teilnehmenden und der Veranstaltung im Blick haben. Wie Therapeuten müssen auch wir nach dem Herz suchen. Wie Einheimische müssen wir in Betracht ziehen, was die Gemeinschaft angeht. Und wie Reisende müssen wir die Universalität des lebendigen Geistes anerkennen. Unsere Arbeit sollte die Menschen nicht vom Denken befreien, sondern sie dazu veranlassen. Unser Schaffen sollte Kopf und Geist zu Fragen und Neugier anregen. Und hin und wieder können wir unsere eigenen Fragen Anstoß zum Austausch sein lassen. Habt ihr mitbekommen, was momentan passiert? Ist das die Welt, die wir haben wollen? Manchmal müssen wir das Wagnis eingehen und unseren Standpunkt vertreten. Und wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht und unsere Vorarbeit geleistet haben, werden wir vielleicht einen weiteren Schritt in Richtung von Paul Robesons Vorstellung einer „höheren und alles umfassenden Kultur“ tun. ------------------------------------ * Augustine St. Claire in Onkel Toms Hütte
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