DIE WELT AUS DER SICHT EINES KÜNSTLERS
Lib Briscoe
Mein Vater studierte Literatur. Meine Mutter liebte Musik und Filme. Und beide teilten sie die Liebe zum Theater. Das Schicksal hatte keine großen Schwierigkeiten, mich zu dem zu machen, was ich heute bin – eine Künstlerin in allem, was ich bin und tue. Der Ruf kam aus dem tiefsten Inneren meiner Seele und ließ für die Erwägung anderer Karriereoptionen keinen Platz. Zumindest waren meine Ohren taub dafür.
Um ehrlich zu sein, hat mir die kreative Arbeit das Leben gerettet. Ich tanzte, als ich nicht zu sprechen wagte. Ich sang, als meine eigenen Gedanken keine Form annahmen. Ich spielte Theater, als es mir zu bedrohlich schien, ich selbst zu sein. Wenn ich heute zurücksehe erkenne ich die abwertenden Stimmen, die mich in meinen jungen Jahren prägten. Ich wurde sehr früh in eine weiße Welt hineingeworfen und hörte jene Stimmen, die damals keinen Raum ließen für Vielfalt. Stimmen, die sagten, wenn ich ihr Verhalten und ihre Überzeugungen nicht annähme, sei ich nicht geeignet für ihre Institutionen. Ich hörte die selben Stimmen sagen, dass ich nicht schön sei, wenn ich meine Haare nicht
glättete, meine Haut nicht bleichte und meine Figur nicht weniger betonte. Ich hörte sie. Aber während dieser ganzen Zeit hörte ich auch die anderen Stimmen, schwarze Stimmen, Stimmen, die älter waren als meine eigene, die diese Äußerungen auch vernahmen und ablehnten. Stimmen, die älter waren als meine, die all das auch gehört hatten - und es nicht befolgten. Ich lauschte den Stimmen von Marian Anderson und Paul Robeson, die sich auflehnten gegen den Status Quo und sich selbst treu blieben. Ich lauschte den Stimmen von Pearl Bailey und Cab Calloway, deren tiefgründige Botschaft mit Humor getränkt waren. Und ich lauschte den Stimmen meiner Mutter und meiner Tanten in der Küche, wie sie über dies und jenes redeten. Angefangen von den Geschichten aus der Nachbarschaft bis hin zum Bereich der Politik. Stimmen, die erhoben wurden in liebevoller Neckerei und gesenkt wurden in ernsthafter Diskussion. Sie erzählten ihre Geschichten, sie sahen die Welt wie sie war und rangen um ihren Weg in dieser Wirklichkeit.
Meine Tochter und ich haben über die Jahre viele Küchengespräche gehabt. Wir lachten über die Komik des Lebens und die Absurditäten, die es uns auftischt. Wir rangen mit den Themen, die uns im Herzen bewegen, Heimat, Rasse, Existenz und das Leben als Künstler. Gemeinsam und jede für sich, haben wir nach Grund und Bedeutung gesucht und fanden manchmal einen Sinn – vermischt oft auch mit viel Unsinn. Heitere Momente der Erkenntnis sind verwoben mit den Schatten bestürzender Momente und die Suche geht weiter. Es ist an der Zeit, unsere Geschichten zu erzählen, was in uns eingegossen wurde, wo unsere Füße Halt finden und warum wir den Pfad einer Existenz als Künstler gewählt haben. An diesem Punkt in meinem Leben nimmt das Schreiben - eine Disziplin, an die ich mich seit Langem herantaste, einen gleichwertigen Platz ein neben dem Tanz, der Musik und dem Theater. Aber es ist anders. Das gemeinschaftliche Arbeiten der darstellenden Kunst wirkt hier nicht. Schreiben ist einsam und abgeschieden. Schreiben ist qualvoll und aufregend. Schreiben fordert heraus, sich festzulegen und es ist erschreckend, wenn es ehrlich ist. Schreiben heißt lernen, alle anderen wohlgemeinten und wertgeschätzten Stimmen auszublenden, sich auf die eigene zu konzentrieren und ihr zu vertrauen. Schreiben heißt, Besitz zu ergreifen von Worten in einer bestimmten Reihenfolge und es anderen nicht zu gestatten, diese anzurühren. Schreiben bedeutet, einen Augenblick zu nehmen, ihn zu vergrößern und ihm einen Platz in einer unendlichen Wirklichkeit zu schenken.
Die Welt scheint dieser Tage oftmals ein trister, beängstigender Ort zu sein. Aber es gibt immer Freude und Hoffnung. Und wenn wir unsere Stimme erheben und einen besseren Weg, von dem wir wissen, dass es ihn gibt, einfordern, nach ihm suchen und für ihn eintreten, dann lebt die Hoffnung und gibt der Freude ihren Raum. Jeder von uns hat eine Stimme, die in ihrer ganz eigenen, einzigartigen Art und Weise wirkt. Das hier ist unsere.
Lennora Esi
Wer jemals in einer Einzimmerwohnung gewohnt hat... zwei Platten als Herd einer sogenannten Küchenzeile, hineingezwängt in eine armselige Version von Flur – die Tür zum Ausgang rechts, die Tür zum Klo gleich links – der weiß die Heiligkeit einer richtigen Küche zu schätzen. Küchen sind wahrhaftig die eigentlichen Orte des Geschehens. Alle spannenden Ereignisse spielen sich hier ab: Mahlzeiten, politische Diskussionen, Streits, kreative Kochsessions. Bei Hausparties versammeln sich alle immer in der Küche - und das nicht ohne Grund... natürlich... schließlich ist da das ganze Essen.
Für mich ist die Küche ein Ort, den ich mit Familie assoziiere: Um den Küchentisch versammelt im Haus meiner Familie in Philadelphia, wie ich Tierdokus anschaue mit meiner Tante, mein Onkel eine seiner historischen Reden hält oder meine Cousine und ich uns halb totlachen. Im Haus meiner deutschen Oma in Stuttgart beim Plätzchen, Kuchen oder Waffeln backen während wir Volkslieder trällern oder Radio hören. Es gibt so viele schöne Erinnerungen, so viele Erlebnisse, die sich an diesen Orten zugetragen haben. Manche so bedeutend wie Briefe öffnen, die meine Zukunft bestimmten, manche so simpel wie auf einem dunkelroten Hocker stehen und Geschirr spülen. Eine Küche ist ein Ort der Versammlung. Ein Lebensraum. Ein Reich, in welchem Körper und Geist genährt werden. Genau das soll dieser Blog auch sein.
Von dem Moment an, da ich zwei Worte zu Papier bringen konnte, begann ich Geschichten zu verfassen. Ich liebte kreatives Schreiben in der Grundschule. Meine Grammatik war „interessant“, meine Rechtschreibung „innovativ“, aber ich konnte Stunden damit zubringen. Ich konnte mich verlieren im Leben erfundener Figuren und in den Landschaften meiner Gedanken. Gedichte, Aufsätze, Märchen... ein Wort... und ich legte los. Und dann kam ich aufs Gymnasium.
Statt „verträumt“ stand nun „unaufmerksam“ in meinem Zeugnis. Meine Grammatik wurde von „interessant“ auf „inkorrekt“ und meine Rechtschreibung von „innovativ“ auf „falsch“ herabgestuft. Meine Leidenschaft für Geschichten wurde mit 4ern und 5en versehen, da ich nicht dem Standard entsprach, den die Gesellschaft von einer Elfjährigen erwartet. Ich verlor jeglichen Glauben an mich selbst. Ich entwickelte schon eine Schreibblockade, bevor ich überhaupt die Chance bekommen hatte, Schriftstellerin zu werden. Ich schrieb weiter, aber ich konnte nie eine Geschichte zu Ende
bringen. Meine Gedichte zeigte ich keinem, aus Angst, sie seien nicht gut genug in den Augen anderer. Und doch konnte meine Begeisterung für das Schreiben nicht ausgelöscht werden. Ich bin keine schnelle Denkerin und ich funktioniere nicht gut, wenn man mich unter Druck setzt. Ich habe oft Wortfindungsschwierigkeiten, wenn ich mich unterhalte oder diskutiere. Und mein Kopf schwebt gerne in den Wolken. Wenn ich schreibe, kann ich mir die Zeit nehmen, das richtige Wort und die beste Formulierung für das zu finden, was meine Gedanken auf ihrer Reise erlebt haben. Hier bin ich also... und breite die Worte, die ich im Dunkeln geschrieben und geheim gehalten habe, nun aus in der Öffentlichkeit – mitten auf dem Küchentisch.
Als meine Mutter und ich zum ersten Mal in einem gemeinsamen Projekt auftraten, war ich ungefähr ein Jahr alt. Sie und ihre Freundin Susan machten zusammen ein Stück für zwei Frauen und meine Freundin (Susans Tochter Katrina) und ich mussten nichts anderes tun, als mit einem Spieltelefon auf der Bühne zu sitzen und wir selbst zu sein. Heute bedarf es selbstverständlich etwas mehr Arbeit, Know-how und Recherche, aber ich bin sehr dankbar, dass meine künstlerische Reise stets von meiner Mutter begleitet wurde. Von meiner Lehrerin, Regisseurin und Trainerin zur Partnerin und Kollegin. Sie wird immer mein Mentor bleiben und ich werde nie aufhören, von ihr zu lernen. Dieser Blog ist eine weitere gemeinschaftliche Arbeit, Teil in einer langen Geschichte der Zusammenarbeit.