“Sie sind ein bisschen spät dran“
Soweit ich das am Telefon beurteilen kann, scheint sie nicht nur eine sehr offene und herzliche Person zu sein, sie ist auch erpicht darauf, so viel wie möglich, zu erfahren: wohin sie gehen solle, wie das alles so ablaufe und was bisher meine Erfahrungen in der freien Wildbahn gewesen seien... „Und wie war das so für dich? Ist staatlich wirklich besser als privat? Wie bereite ich mich für die Aufnahmeprüfung vor?“ Die Freundin des Bruders einer Schulfreundin überlegt sich, nach ihrem BWL Studium in Richtung Schauspiel zu gehen und ich gebe ihr selbstverständlich gerne Auskunft. Es macht richtig Spaß, mit ihr zu reden und ich merke, wie ich mich in die aufregende Zeit zurückversetzt fühle, in der ich selbst beschloss, die Kunst zum Beruf zu machen. Doch dann sagt sie etwas, das mich fast zur Weißglut treibt. Besser gesagt, es ist was sie sich hat anhören müssen : „Oh... Sie sind 23? Sie wissen schon, dass das ein bisschen alt ist, um mit dem Schauspiel anzufangen?“ Für jene unter euch, die sich damit nicht auskennen: es gibt in Deutschland zwei Arten von Schauspielschulen, staatliche und private. Staatliche Schulen sind zwar kostenfrei, allerdings nehmen sie pro Jahr im Schnitt nur acht Schüler aus einem Pool von 600 – 2500 Bewerbern auf. Viele behaupten, das sei ein Grund dafür, dass Absolventen einer staatlichen Schule besser seien (sie entscheiden sich von Anfang an nur für die talentierten Leute, während private Schulen aus Finanzierungsgründen jeden nehmen) - allerdings steckt auch sehr viel fragliche Politik dahinter. Eine der Regeln beispielsweise ist, dass die Altersgrenze für die Aufnahme in staatliche Schulen bei 24 liegt. Schauspiel ist bei Weitem nicht die einzige Kunstrichtung, in der das „Fördern unverbrauchter, junger Talente“ gepredigt wird. Habt ihr jemals versucht, mit einer Person zu diskutieren, die davon überzeugt ist, dass man „jung anfangen muss, um erfolgreich zu werden“? Also, wenn ihr mich fragt, ist diese Annahme auf mehreren Ebenen problematisch. Zum einen übt es einen enormen Druck auf unsere Jugend aus, sich in so vielen Bereichen wie möglich zu engagieren (bis sie völlig überfordert sind) und zum anderen suggertiert es das falsche Bild, dass mit 25 unser Leben gesetzt sei, dass es keine Alternativen mehr gäbe, und dass es ab diesem Zeitpunkt nur noch bergab ginge. Ich kann über andere Kulturen keine Urteile fällen und ja, bereits in der Vergangenheit wurde Älterwerden als etwas Negatives betrachtet (die Quelle der Jugend kommt mir dabei in den Sinn) aber unsere heutige, westliche Gesellschaft scheint von jugendlichem Auftreten und Aussehen so besessen zu sein, dass wir beim Anblick von Falten und kahlen Stellen regelrecht erstarren. (Zugegeben - ich selbst bin neulich auch fast in Tränen ausgebrochen, als ich glaubte, mein erstes graues Haar entdeckt zu haben). Natürlich bleibt auch die Kunst von diesen Vorstellungen nicht unberührt. Schlimmer noch: die Kunstwelt fördert dieses Denken. Botox und Schönheits-OPs in Hollywood, fotogeshopte Modells auf Plakaten, das Publikum mit Tricks und Effekten begeistern... ich könnte stundenlang weiter machen. Aber sollte die Kunst nicht eigentlich gängige Ansichten hinterfragen? Sind wir Kunstschaffenden nicht diejenigen, die das Unmögliche möglich machen und Wunder Wirklichkeit werden lassen sollen? Sollen wir nicht aufzeigen, dass es nicht nur einen, sondern viele Wege gibt? Ich habe im Lauf der Jahre so viele Menschen kennengelernt, die gerne tanzen wollen, aber jetzt niemals ihren Körper optimieren werden, singen wollen, aber jetzt niemals den nötigen Stimmumfang erreichen werden, spielen wollen, aber in diesem Alter keine Aufträge erhalten werden, Musik machen wollen aber mit dem jungen Kommilitonen, der seit seinem 14. Lebensjahr mit Musikprogrammen arbeitet, nicht konkurrieren können. Klingt alles nachvollziehbar, oder? Aber dann frage ich mich... wie es mein Schauspielkollege, der mit 40 eingestiegen ist und die Frau, von der ich las, die mit Ende 80 ihre Karriere startete, es geschafft haben? Wie konnte ich Tänzerin und Tanzlehrerin werden, obwohl ich erst mit 21 ernsthaft mit dem Tanzen angefangen habe? Wie konnte meine Mutter Sängerin, meine Freundin Malerin, mein ehemaliger Arbeitskollege Filmemacher werden? Sind wir Ausnahmen? Sind wir besonders talentiert? Oder haben wir einfach den Mut gefunden, zu sagen: Scheiß drauf! Ich machs trotzdem! Es geht um das, was man mitbringt Manchmal müssen wir diese Stimmen von außen und jene in unseren eigenen Köpfen ausblenden. Manchmal müssen wir ins kalte Wasser springen, unseren Wünschen und Träumen folgen und darauf vertrauen, dass.... egal was passiert... alles gut wird. Hey! Ich verstehe es vollkommen, das ist viel leichter gesagt, als getan, nicht wahr? Diese Einstellung ist toll, wenn man niemanden zu Hause hat, den man versorgen muss, keine Rechnungen zu bezahlen, oder für eine Rente zu sparen hat. Mit dem Alter und mit unseren Entscheidungen im Leben kommt Verantwortung und wir haben nicht alle das Privileg, auf „Anfang“ zu setzen und neu zu beginnen. Wie Arianna Huffington es deklarierte: Scheitern ist nicht das Gegenteil von Erfolg. Es ist Teil davon. Können wir uns Scheitern im Alter noch erlauben? Da sind sowohl finanzielle als auch persönliche Aspekte zu beachten. Können wir es uns wirklich gestatten, unser Geld, unsere Zeit und Energie in das Erlernen einer frei gewählten Kunstform zu investieren, von der wir nicht wissen, welchen Gewinn sie uns letztendlich einbringen wird? Ich sage: ja! Obwohl niemand von uns mit voller Sicherheit sagen kann, wo uns der Weg letztendlich hinführt, garantiere ich, dass diese Reise lohnenswert ist. Eine Kunstform zu erlernen bedeutet, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, die in dieser Form, die um uns herum und in uns drinnen existiert. Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie die Gesetze der Physik und Psychologie zusammenkommen, sodass ein Mensch eine Komposition erschaffen kann, die aus Farbe, Klang oder Bewegungen besteht. Wir lassen uns inspirieren von dem, was wir sehen. Wir gehen Themen aus einem anderen Blickwinkel an und setzen uns mit Fragen genauer auseinander. Und wir lernen in diesem Prozess so verdammt viel über uns selbst. Wisst ihr, was das Beste an der Kunst ist? Es geht nicht um Geschwindigkeit! Es geht nicht um Quantität! Es geht um das, was du mitbringst! Denkt nur, an all die Erfahrungen und Erlebnisse, aus denen man schöpfen kann, welche Geschichten man zu erzählen hat. Und wenn man sich zu einer Kunstform hingezogen fühlt, gibt es mit Sicherheit einen Grund, warum gerade diese Form es von einem verlangt, sich durch ihre Mittel auszudrücken. Ich weiß, was ihr denkt: Das klingt ja alles schön und fluffig und Hippie-mäßig und so, aber es ändert nichts an biologischen Tatsachen. Es ändert nichts an der Realität, dass man einfach schneller lernt, wenn man jünger ist, dass sich Knochen und Stimme noch entwickeln und man schlicht mehr Zeit hat, sein Handwerk zu erlernen. Ja, da liegts – um es in Hamlets Worten auszudrücken. Wir sind der seltsamen Überzeugung, dass wir uns erst dann vollwertige Künstler nennen dürfen, wenn wir unser Handwerk perfektioniert haben. Selbst wenn wir unsere Ausbildung abgeschlossen und viele Fortgeschrittenenkurse besucht haben, oder selbst wenn wir unser Ziel erreicht haben und an unserem Traumort auftreten oder unsere Kunst dort ausstellen durften... können wir jemals wahrhaftig von uns selbst behaupten, dass wir nun fertige Künstler sind und nichts mehr zu lernen brauchen? Nein? Warum also dann nicht auch im Umkehrschluss daran glauben, dass auch diejenigen, die gerade erst anfangen, etwas zu sagen haben? Kunst ist immer im Wandel und entwickelt sich stetig weiter. So wie man heute kreiert, wird man es morgen vielleicht schon nicht mehr tun. Wenn du dich also nicht mehr ohne Weiteres auf den Boden fallen lassen kannst... dann entscheide dich für eine andere Bewegung. Wenn du die hohen Töne nicht mehr erreichst... transponiere. Wenn dich niemand einstellt... kreiere selber. Wenn dein Musikerkollege sich besser auskennt mit den Software Programmen der Musik... egal! Eure Musik soll sowieso nicht genau gleich klingen! Um Whoopie Goldberg zu zitieren, die sich auf Rainer Maria Rilke berief: “If, when you wake up in the morning, you can think of nothing but writing… then you are a writer.” „Genauso alt, wie wenn Sie es nicht tun“ Ich glaube nicht, dass einfach jeder Künstler werden kann. Ich glaube nicht, dass Töne fabrizieren, gleich singen bedeutet und Körperteile zu bewegen Tanz ist. Ich glaube nicht, dass ich einen Klecks Farbe an eine Wand schmieren und mich dann einen Maler nennen kann. Vielleicht seid ihr da anderer Meinung und ich bin sehr gespannt, zu lesen warum. Ich persönlich sehe ein Kunstwerk, egal welcher Richtung, als ein Zusammenspiel aus Geschick, Talent und verdammt viel harter Arbeit. Ha, also doch! - mag der oder die eine oder andere nun denken. Es MUSS also bestimmte Kriterien geben, um sich Künstler taufen zu dürfen. Wenn nicht Alter und Dauer der Tätigkeit, was sind dann die maßgebenden Punkte? Wie misst man Geschick, Talent und Fleiß in der Kunst? Ich selbst nehme mir nicht heraus, das beantworten zu können. Aber genauso, wie ich nicht daran glaube, dass unsere Noten in der Schule ausschlaggebend dafür sind, ob wir später gute Ärzte werden, glaube ich nicht, dass die Bedeutsamkeit dessen, was wir zu sagen haben, an so etwas Oberflächlichem wie Gewicht, Herkunft, Geschlecht oder Alter festzumachen sind. Wenn man jung zur Kunst findet, ist das wunderbar! Ich selbst habe bereits früh auf verschiedenen Bühnen gestanden, weil es das war, was ich liebte. Aber meine Mutter ist eine darstellende Künstlerin. In unserer Familie waren Musik und Theater teil des Alltags. Wenn eine Familie ihrem Kind die Künste nicht nahe bringt, wie soll es dann wissen, ob sie ihm gefallen würden? Vielleicht warst du früher in deinem Leben nicht an dem Punkt, wo es möglich schien, eine Kunstrichtung zu verfolgen. Aber jetzt bist du an dem Punkt. Ob man eine alles umfassende Karriere daraus wird machen können, hat niemand von uns wirklich in der Hand. Und man wird immer auf Menschen treffen, die schon fest beschlossen haben, welches das korrekte Einstiegsalter ist. Aber wir müssen Menschen auch die Möglichkeit bieten, ihre Meinung zu ändern. Wenn sie nicht mit einer Alternative konfrontiert werden – wieso sollten sie ihre Position überdenken? Aber vor allem haben wir ein Recht darauf, mit unserem Leben glücklich zu sein. Und diese Zufriedenheit wird sich auch auf andere übertragen. Kunst gehört nicht den Jungen, Schönen und Nicht-Behinderten. Kunst gehört all jenen, die aktives Kreieren berührt. Und stell dir vor, was du alles kreieren kannst, wenn du es zulässt. Wer kann schon sagen, wie gut du sein wirst? Woher kannst du es wissen, wenn du es nicht versuchst? Und falls ich einige von euch noch immer nicht überzeugt habe... dann schafft es ja vielleicht Julia Cameron. Als die Autorin und Lehrerin gefragt wurde: „Wissen Sie eigentlich wie alt ich sein werde, wenn ich dann endlich gelernt habe, Klavier zu spielen/zu schauspielern/zu malen/ein anständiges Stück zu schreiben?“, antwortete sie: „Ja.... genauso alt, wie Sie sein werden, wenn Sie es nicht tun.“ ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ WEITERES ZUM THEMA: Julia Cameron - Der Weg des Künstlers
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AutorenLib Briscoe Archiv |