VOICES FROM A BLACK KITCHEN
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Eine Frage des Gewissens - von Lib Briscoe

6/22/2020

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Die junge Frau trat in die Wahlkabine, drehte sich um und zog den Vorhang zu. Diese Geste, deren Sinn eigentlich war, ihr ein Gefühl von Freiheit zu verleihen, verstärkte hingegen ihr Empfinden, schutzlos und isoliert zu sein.
Sie war physisch zwar abgesondert, doch all die Einflüsse waren mit ihr in die Kabine getreten. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, hatte jedoch nicht die Absicht, dem zu entsprechen.
Sie griff nach dem Bleistift und war erstaunt, als sie ein leichtes Zittern ihrer Hand verspürte – sie hatte es sich leichter vorgestellt.

„Ich kann weder Respekt noch Zuneigung empfinden für eine Regierung, die ein Unrecht nach dem andern begeht, um die eigene Unmoral zu verteidigen.“
Mahatma Gandhi (Letter to the Viceroy, Young India, August 4, 1920)


Das Gewissen der Machthaber

Ich frage mich oft, ob es möglich ist, dass Angehörige einer herrschenden Klasse gewissenhafte Entscheider sind – dass das Gewissen Hauptbestandteil der Regierungstätigkeit ist.
Nicht nur ab und zu, sondern immer. Nicht nur als idealistischer Neuling, sondern auch als erfahrener und routinierter Politiker. Ersetzen Opportunität und Zweckdienlichkeit schlussendlich immer Ethik und Moral? Bedeutet die Aufnahme im Club der Herrschenden immer den Beginn einer spontanen und unausweichlichen Metamorphose? Sind Macht und Status, die der Job mit sich bringt, grundsätzlich korrumpierend? Gibt es einen Punkt, an dem die Größe der Macht so absolut wird, dass Korruptheit die Grundfesten des Charakters erreicht und es kein Zurück mehr gibt? Der geschichtlichen Empirie nach müsste man sagen, ja. Und eben jener Beweis würde es nahelegen, dass jene, die der Versuchung nicht erliegen, neutralisiert, entmachtet und ausgegrenzt werden.

Was um alles in der Welt hat uns so weit gebracht?

Eine Vergangenheit, eine Geschichte – beruhend auf Sklaverei und Völkermord, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus, Diebstahl und Brutalität, Hass und Vorherrschaft der weißen Rasse, unaufgearbeitet und mit unverheilten Wunden, doch wohlauf und tief eingewoben in die DNA der Gegenwart – hält insgeheim und verdeckt die Zügel in der Hand, sodass auch in Zukunft der gleiche Kurs beibehalten wird: Mit Kungeleien und Machenschaften, die Ohnmächtigen auf ewig und besten Gewissens den Wölfen zum Fraß vorwerfend - im Namen des Profits.

Kungeleien und Machenschaften – 1. Szenario
Frühe 1770er Jahre. Zwei Staatsmänner stehen im Raum, die Hände bedeutungsvoll hinter dem Rücken verschränkt, die Stirn in tiefe Falten gelegt, die Köpfe gesenkt ob der Schwere der Entscheidung. Ein dritter steht nahe der Türe, resolut, offensichtlich verärgert, bereit, die Verhandlung platzen zu lassen, wenn es sein muss. Entweder die Sklaverei bleibt, oder der Süden ist raus. Er weiß, er hat die beiden heuchlerischen Sklavenbesitzer in der Tasche.

Kungeleien und Machenschaften – 2. Szenario
Im Jahr 1812. Der Raum ist voller Spannung, erhitzte Gemüter, Rufe, leidenschaftliche Auseinandersetzungen und glühende Gegnerschaft. Es stinkt nach Wutschweiß. Zu früh für Krieg. Die Leute sind des Krieges müde.
Aber der erste Krieg, hat noch kein Ende gefunden. England beherrscht die See. England behindert unseren Handel. England steht auf der Seite der Indianer, hindert uns an der Expansion nach Westen. Die Wilden verweigern, sich anzupassen. Wir müssen erobern und expandieren. Es ist unsere offenkundige Bestimmung. Wir ziehen in den Krieg.


Kungeleien und Machenschaften – 3. Szenario
Späte 1870er Jahre. Ein Gerichtssaal voller chinesischer Einwanderer; Amerikaner mit chinesischer Abstammung, weißer Anwälte, eine weißer Richter. Ein Chinese sitzt auf der Anklagebank. Keine Papiere. Wo sind sie? Zu hause. Mein Klient wünscht, auszusagen. Bist du ein Christ? Nein. Dann ist der Eid auf die Bibel nichtig und unwirksam. Das Wort eines Chinesen fällt nicht ins Gewicht. Gibt es einen Weißen, der zur Bestätigung aussagen kann? Nein. Ausweisen!

Kungeleien und Machenschaften – 4. Szenario
Im Jahr 1914. Eine Zeltstadt. Kohlearbeiter und ihre Familien leben in ungeheuerlichen Verhältnissen. Zum Schutz gegen die Banden der Besitzer bewaffnet. Ein gewaltiger Streik, Gewerkschaftssolidarität. Regierung und Minenbesitzer stecken unter einer Decke. Herein treten die Streikbrecher, herein tritt die Nationalgarde. Ein Maschinengewehr eröffnet das Feuer. Ein Kampf entsteht, ein Feuer von der Garde entfacht. Ein Massaker – Niederlage. Viele Tote. Tote Kinder. Unterdrückung. Keine Erfolge, keine Gerechtigkeit.


Wie also umgehen, mit diesen sehr makelbehafteten und dennoch verehrten Helden unserer Geschichte? Ist es angesichts ihrer Beispiele möglich, das Gewissen als absolutes Kriterium für das Gute anzusehen? Oder zeigt sich eher, dass das Gewissen entgegen aller Verehrung in den Ruhmeshallen der Ethik enorm fehlbar ist? Wenn der Verstand auf vorgefertigte Auffassungen festgelegt ist, die auf Fälschungen und Angst beruhen … dann ist die Funktionsweise des Gewissens an sich bereits schwer beschädigt und das Feld wird reif, für Gier und starrsinnige Ambition, die Oberherrschaft einzunehmen. Die trügerischen, irrigen und angstgeleiteten Schlussfolgerungen, die als „richtige Entscheidungen“ erachtet werden, entpuppen sich als zum Selbstzweck geschlossene Pakte, mit den eigenen Dämonen. Und die kollektive Moral des Gewissens sitzt in der Falle eines ausgefuchsten Netzwerks von Manipulation.

„Die Menschheit hat das Netz des Lebens nicht gesponnen. Nichts weiter sind wir, als eines ihrer Fäden. Was wir dem Netz antun, das tun wir uns selbst an.“ Nach einer Ansprache von Chief Seattle (1854)

Das Gewissen der Krieger

Es war der Winter 1990/91. Ein alter Freund (meines Mannes und nun auch von mir), der seit seinem Schulabschluss in West Berlin lebte, feierte Hochzeit. Wir waren eingeladen. So viele Eindrücke dessen, was gewesen war und wie es nun war und so ganz anders als der Süden Deutschlands, den ich gewohnt war. Einige Jahre zuvor hatte ich in Berlin gelebt und gearbeitet, aber das war eine andere Zeit, eine andere Ära. Nun war die „Mauer“ gefallen und die Stadt befand sich im Frühstadium der Verwandlung – verwirrt, lärmend, turbulent, in einem Zustand offenkundiger Begeisterung. Aber … nicht für alle. Wie eine ausgebleichte Fotographie, die in einer verschlossenen Schachtel auf dem Dachboden gefunden wurde, sehe ich wieder die Bilder der russischen Soldaten vor mir, welche hinter langen Tischen an Straßenecken standen und ihre Ausrüstung verkauften, ihre Orden, Teile der Uniform, alles, was dem neugierigen Touristen als Souvenir aus dieser sehr spannenden Zeit dienen konnte. Alles, was den glücklichen und erleichterten Berliner daran erinnerte, dass diese Zeit endlich, ein für alle mal vorbei war. Alles, was ein wenig Geld einbrachte, um ihre Heimreise zu finanzieren.
Die Schwierigkeit ihrer Situation entging mir nicht, als ich in ihre weichen, gutherzigen Gesichter sah; die Augen voll Hoffnung, dass jemand einen der wertlosen Gegenstände kaufen würde aus einem Leben, das sie im Stich gelassen hatte.
Es war nicht lange her, da standen sie noch auf ihren Posten. Es war nicht lange her, dass sie den Befehl hatten, jeden zu erschießen, der gegen die geltende Ordnung verstieß. Und es war nicht lange her, da hätten sie es sehr wahrscheinlich auch getan. Aber heute … waren sie traurige, junge Männer, die versuchten, nach Hause zu kommen.

In der Innenstadt von Philadelphia, irgendwann Mitte der 80er Jahre. Zwischen Unterrichten und Proben war ich auf dem Weg, mir etwas zu essen zu besorgen. Die Straßen waren abgesperrt wie bei einen Umzug. Einige wenige Leute warteten. Also wartete ich auch. Ich hatte Zeit. Aber es kamen keine feierlichen Blaskapellen, keine versierten Trommler, die komplex abgestimmte Rhythmen spielten, keine farbenfrohen Ballone und keine kostümierten Teilnehmer. Eine Gruppe von Veteranen aus dem Vietnamkrieg marschierte uns entgegen in Reih und Glied. Ich beobachtete sie, damals noch hauptsächlich Männer, wie sie fast in Zeitlupe gingen. Freunde, die Freunde im Rollstuhl schoben. Freunde, die blinden Freunden auf Krücken mit abgetrennten Gliedmaßen dabei halfen, Schritt zu halten und den Marsch zu überstehen. Mein Atem wurde schwer von der Schwere ihrer Gegenwart und ihre Traurigkeit spiegelte sich wider in meinen Tränen. Hier waren sie, Jahre später und zeigten öffentlich ihre verunstalteten Gedanken und Erinnerungen, offenbarten ihre gebrochenen Herzen und noch immer trauernden Seelen und baten darum, nicht vergessen zu werden, baten darum, nicht allein gelassen zu werden, baten um Güte, gleich was sie getan hatten.

Was spielt sich im Gewissen von Soldaten ab? Bei denen, die sich freiwillig aus Begeisterung für die Sache melden? Bei denen, die sich als Beschützer des Staats- und Gemeinwesens verpflichten? Bei denen, die glauben, sie hätten keine andere Wahl, die sich melden wegen der Aussicht auf gute Unterkunft, auf bezahlbare Waren und Zugang zu kostenloser Bildung? Oder bei denen, die wissen, dass sie erwachsen werden müssen, aber nicht wissen, wie sie das machen sollen und die sich deshalb beim Militär verpflichten? Und verschmelzen die Interessen und Grundsätze der einzelnen, von diesen unterschiedlichen Ausgangslagen zu einer gemeinsamen Ausrichtung und Orientierung? Wird „ein Soldat“ zu „alle Soldaten“, vereint in kollektiver Wahrnehmung und in Reaktion auf etwas, das zur Bedrohung erklärt wurde? Ist diese kollektive Wahrnehmung ein Werkzeug, bereit, gelenkt zu werden von welcher Autorität auch immer? Wird das Gewissen des Soldaten beruhigt durch die Überzeugung, das er oder sie Teil einer gut geölten Maschine ist, die entwickelt wurde, um schnell zu reagieren sobald danach verlangt wird? Und: ist das genug?

Krieg, oder nicht Krieg. Und mit wem und aus welchen Grund. Leben, Körper und Verstand riskieren auf Befehl. Unauslöschlichen Schmerz bringen über… wen auch immer. Einer inkonstanten und schwankenden Autorität folgen. Heute den Liberalen, morgen den Konservativen. Wie auch immer. Irrelevant. Befolge den Befehl, erfülle deine Pflicht, halte die Augen geradeaus und stelle keine Fragen.

Aber ihr, die ihr geübt seid in Gehorsam und militärischer Kameradschaft, seid ihr nicht auch Geschöpfe mit Verstand und Mitgefühl, mit der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu analysieren, weil ihr menschlich seid? Sind Rechtschaffenheit und Weisheit nicht euer Erbrecht, weil ihr Menschen seid? Ist das Hinterfragen nicht in eure menschliche Psyche eingebettet, Fragen stellen bis es keine Fragen mehr gibt?
Sind nicht Wahrheit und Ruhe ein Erbe, dass euch zusteht? Ihr habt die Kehrseite der Medaille gesehen. Was sagt euer Gewissen?

„Ich habe getan, was mein Gewissen mir befohlen hat und man kann nicht scheitern, wenn man nach seinem Gewissen handelt.“ Anita Hill (CBS, 60 Minutes – February 2, 1992)

Ein Votum für das Gewissen

Die Wahlen rücken immer näher und damit auch die Beleidigungen, die Parteinahme, die Schuldzuweisungen und Beschimpfungen, das Bestimmen von Freund und Feind und Gebietsansprüchen - Etikettierungen, Abspaltungen und Lakmusproben. Anders gesagt: Uns, dem Wahlvolk, steht wieder die unangenehme Aufgabe ins Haus, entscheiden zu müssen, wer in unserem Namen Entscheidungen fällt.
Wir hoffen auf unser Gewissen als Entscheidungshilfe. Aber zutiefst geprägt von althergebrachten, mit der Muttermilch aufgesogenen Denkbildern einerseits und gebunden an unsere nationalistische Mythologie andererseits lassen wir dem Gewissen nicht viel Spielraum. Wir akzeptieren die Verteufelung von dritten, vierten und fünften Optionen, weil wir egozentrisch darauf getrimmt sind, jede Sichtweise zu delegitimieren, die nicht mit unserer eigenen übereinstimmt. Wir halten Überlegung und Mitgefühl dem Gewissen fern. Erkenntnis und Analyse werden nur dem eigenen Kreis zugestanden. Aufrichtigkeit und Weisheit werden mit Selbstgefälligkeit und Selbstrechtfertigung vertauscht. Wir sind geteilt… aber geteilt halten wir nicht lange stand.

„Das eigene Gewissen zu verraten, ist wie ein Loch in die Seele zu bohren und zuzusehen, wie es sich mit Scham füllt.“ Lib Briscoe – aufgrund eigener Erfahrung

Mein Gewissen soll mich leiten*

Wenn ich meiner Entscheidung nur sicher sein könnte, ohne Fragen oder Zweifel, keinem Zweck außer meinem dienen könnte, ohne zu Zaudern, in glücklicher Zufriedenheit. Wenn ich zwischen all dem Fingerzeigen, Beschimpfungen und Beschämungen stehen könnte, unbewegt und mit todsicherer Überzeugung, in Erinnerung, dass das Wahlrecht hart erkämpft und hart erfochten wurde und es nicht zulassen würde, dass diese Errungenschaften umsonst gewesen sein sollten – der inneren Stimme, mit ruhiger Sicherheit zu vertrauen. Aber wie? Die Spaltungen sind echt und die Gefahr, Freunde zu verlieren und Angehörige zu verprellen, ist nicht zu leugnen.

Vertraute Beziehungen laufen Gefahr, zu wanken und belastet zu werden, weil Meinungsverschiedenheiten sich zu einer Frage der Vereinbarkeit von Grundwerten entwickeln – eine erschütternde Herausforderung, der man sich ausgesetzt sieht.
Aber wenn das Wahlrecht heilig ist, dann ist es mein persönliches, heiliges Recht, zu wählen. Es gehört allein mir und meinem Gewissen und niemand sonst hat ein Anrecht darauf. Keine Partei hat ein Anrecht auf meine Stimme, kein aufgestellter Politiker oder Kandidat, auch nicht jene, für die ich mich entscheide. Keine Kommentatoren, keine Journalisten, ob ich nun ihrer Meinung bin oder nicht, haben ein Anrecht auf meine Stimme. Weder meine Familie, noch meine Freunde, nicht jene wundervollen Menschen, die ich sehr liebe und wahrhaftig respektiere und ehre, haben ein Anrecht auf meine Stimme. Sie gehört mir und werde sie so einsetzen wie ich und mein Gewissen es für richtig halten. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass dies eine ernsthafte Verantwortung mit sich bringt – mein Gewissen erinnert mich daran immer wieder. Ich bin verunsichert und nicht ohne Furcht. Aber mein Gewissen verlässt mich nicht, es bleibt - manchmal höchst ärgerlicherweise – präsent.

Sie fordert meinen Mut und treibt mich zur Arbeit, sie zerrt an meiner Bequemlichkeit und zwingt mich, aufmerksam zu sein. Wenn wir vereint sind, sucht sie in ständigem Erwägen gemeinsam mit mir nach Wahrheit und Wissen. Sie macht sich die Mühe und hilft mir, über mein eigenes Ich hinauszublicken, damit ich die Fülle über dem eigenen Horizont wahrnehmen kann und erkenne, dass ich nur ein Licht neben unendlich vielen anderen bin. Sie bringt mich in Verbindung mit dem lebendigen Geist, der die Taten und Gepflogenheiten der Böswilligkeit zunichte macht und treibt mich an, die universelle Liebe anzunehmen, die Basis ist für alle Träume der Utopie. Sie ist unerschütterlich.

„Es gibt kein weicheres Kissen, als das reine Gewissen.“ Französisches Sprichwort

Versuchung packte die junge Frau bei den Schultern und sie gab nach. Das Bild der Gemeinschaft, welche sie aufgab, kam ihr in den Sinn, die Feier, zu der sie nun nicht länger eingeladen sein würde.
Als sie ihren Blick auf das Formular vor sich richtete, wurde ihr Atem flacher.
Der Bleistift bewegte sich auf die Wahl ihres Gewissens zu und sie setzte ein Kreuz in dem Kästchen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich umdrehte und den Vorhang wieder aufzog. Wie würde sie es ihnen sagen? Würde sie es ihnen überhaupt sagen? Sie beschloss, als Erstes einmal spazieren zu gehen.

*Jiminy Cricket, Pinocchio von Walt Disney
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Wie das Schicksal durch Zufall ermordet wurde - von Lennora Esi

3/30/2020

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„Mir kommt´s irgendwie vor, als ob was fehlt!“, sagt er und tastet mit beiden Händen seine Taschen an Brust und Schenkeln ab. Die verwirrten Falten auf seiner Stirn verwandeln sich mit einem Schlag in blankes Entsetzen, als er den gesenkten Blick hebt und mich mit geweiteten Augen anstarrt: „Scheiße, mein Rucksack!“ Nee jetzt! Ich vernehme innerlich, wie meine bisher ohnehin schon zum Zerreißen gespannten Nerven, sich um eine weitere Faser verdünnen. Das ist jetzt nicht sein Ernst! „Hast du seine Nummer?“ frage ich meinen Ehegatten verärgert und kenne die Antwort bereits. „Nein!“ Er macht sich an seinem Handy zu schaffen.
Wir stehen vor den automatisierten Drehtüren zum Hamburger Flughafen. Auf ihrer Heimreise nach München haben uns Freunde seines Bruders netterweise hier abgesetzt. Mein Mann und ich wollen nach unserem Kurztrip im Norden mit seiner Familie noch einen Abstecher in den Süden unternehmen und meine Familie besuchen. Morgen geht dann der Flug zurück nach Kanada (unsere momentane Heimat). Ein an sich schon sehr knappes Unterfangen und nun muss der Junge auch noch seinen Rucksack liegen lassen!  
Im Auto eines Mannes, dessen Kontakt wir nicht haben und den wir - selbst wenn ihn hätten - nicht anrufen können, da wir mit unserem amerikanischen Anbieter in Deutschland kein Netz haben. Ich atme tief ein und versuche, meinen Zorn gleich der verbrauchten Luft aus meinem Körper zu befördern. Schimpfen hilft jetzt auch nix. Indes versucht sich der Urheber  meines Zorns fluchend, aber dennoch vergebens, in das Flughafen-WLAN einzuloggen. Ich schwinge meinen Rucksack – ja, ICH habe meinen Rucksack ! – von der Schulter und krame in dessen Untiefen nach meinem Telefon. Wie kommt es, dass man in Damentaschen nie schnell findet, was man gerade sucht? „Baby, versuch du auch mal!“ fordert die Männerstimme neben mir. „Ich such ja schon!“ Zum dritten Mal schiebe ich nun die Tempos beiseite … wo ist es denn nur? „Baby!“, ruft die Stimme jetzt noch penetranter. „Ja Mann, ich kann mein Handy nicht finden!“ In dem Moment, da ich es ausspreche, trifft mich die Erkenntnis … ich hab mein Handy doch … nicht etwa … im Auto liegen lassen?! PLOPP! Adios Nervenfaden … danke für's lange Durchhalten! Mit sehr, sehr schlechtem Gewissen starre ich nun in das Gesicht meines Geliebten.  -  Hoppla.
Na endlich! Das sture Internet hat wohl ob der ganzen Situation schließlich doch Mitleid mit uns. Mein Schatz – der Arme - erreicht per WhatsApp seinen Bruder, der wiederum seinen Kumpel und dieser teilt uns mit, dass er sich schon auf dem Weg zurück zum Flughafen befinde. Jetzt wollen wir nur hoffen, dass mein Handy wirklich im Auto aus der Jackentasche gefallen ist. Denn falls nicht, befindet es sich gerade ca. 150 km weiter nördlich … in einer inzwischen verlassenen Jugendherberge … dann haben wir erst recht ein Problem! 
Wie zwei begossene Pudel stapfen wir zurück an den Parkplatz und warten. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit (wahrscheinlich waren es 15 Minuten) fliegt uns der schwarze Rucksack voller Vorfreude an einer, aus dem Autofenster gestreckten Hand entgegen. Der Wagen hält, ich öffne die Hintertüre – bete zu allen Göttern, Allahs und Krishnas da draußen und … Gott-Allah-und-Krischna-sei-Dank! Auf der Rückbank liegt, gelassen vor sich hin dösend, mein kleiner technischer Freund.
Ich knote mental die gerissenen Enden meines Nervenfadens zusammen, während wir beobachten, wie unsere Helden in einem Meer davonfahrender Autos verschwinden. Wir drehen uns zur Eingangshalle, ich greife nach der - mir nun wieder bewussten - schönsten Hand dieser Welt und kann unser Glück kaum fassen. Hätte er seinen Rucksack nicht vergessen, wäre mir wohl bis zur Sicherheitskontrolle nicht aufgefallen, dass mein Handy fehlte. Ich wende den Blick nach oben und danke dem Schicksal, für die Vergesslichkeit meines Mannes! 
​

Das kann ja kein Zufall gewesen sein!

Dieser Satz zieht sich wie eine Art externes Mantra seit Jahren durch mein Leben. Ich sitze beim Glas Bier, Saft oder heiße Schokolade meinem Kumpel gegenüber und lausche seiner unglaublichen Liebesbegegnung … hätte er nur dies oder jenes um ein Haar anders gemacht, wäre er seinem neuen Schatz, niemals über den Weg gelaufen. Gottseidank ist da diese unerklärliche, magnetische Anziehung im sich exponentiell expandierenden Universum, die genau im richtigen Moment dafür sorgt, dass sich zwei besondere Menschen von sieben Billiarden nicht um zwei Sekunden verpassen!
Am darauf folgenden Tag, sitze ich bei Ei und Speck, Schnitzel oder Kässpätzle meiner Freundin gegenüber und tröste sie über ihre verflossene Liebe hinweg. Es wird schon alles seinen Sinn haben! ermutigt sie sich selbst, es wird geprostet und damit ist die Sache gegessen. 

Es ist beruhigend zu glauben, dass die Dinge, die uns widerfahren - ob nun gut oder schlecht - nicht einfach willkürlich passieren. Auch wenn es die existenzielle Frage (Warum sind wir eigentlich hier?) nicht beantwortet und den eigentlichen Sinn des Lebens nicht erklärt, so veranschaulicht es doch zumindest bestimmte Abschnitte.
Aber so ganz habe ich nicht verstanden, was sich da auf dem Parkplatz am Hamburger Flughafen abgespielt hat. Mein menschlicher Drang, alles zu ergründen, gewinnt Überhand. Ich möchte all den „Das kann ja kein Zufall gewesen sein“s und „Es wird schon alles seinen Sinn haben“s auf den Grund gehen!  

Was genau verbirgt sich also hinter dem Mysterium, das wir so selbstverständlich „Schicksal“ taufen? Google spukt als Definition aus: „Von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, was sich menschlicher Berechnung und menschlichem Einfluss entzieht und über das Leben des einzelnen Menschen bestimmt.“ Schicksal kann Ende bedeuten (Er erlag seinem Schicksal) oder einen Neuanfang bestreiten (Das war sein Schicksal). Es kann Ungewissheit hervorrufen (Wer weiß, was das Schicksal für mich bereithält) oder Sicherheit geben (Sich mit seinem Schicksal abfinden).
In der griechischen Mythologie bestimmten die Schicksalsgöttinnen, die Moiren Klotho, Lachesis und Atropos, über das Los der Menschen. Der alles entscheidende Lebensfaden wurde von Klotho gesponnen, von Lachesis zugeteilt und von Atropos zerschnitten. Sie beobachteten eine Person ihr Leben lang und konfrontierten sie auf Geheiß des Rates der Götter mit den Folgen ihres Handelns. Allerdings besaß Zeus das Privileg,  einzugreifen, wenn er wollte.
In vielen germanischen Kulturen, wurde das Schicksal, eine Macht „Wyrd“ oder „Ur“ genannt,   auch von einer Gruppe, ebenfalls oft als starkes weibliches Trio dargestellt, entschieden. Die Nornen schnitzten das Geschehen im Kosmos und Lebensereignisse der Menschen in die Wurzeln des Baumes Yggdrasil, welcher im Zentrum des Kosmos stand. Sogar Götter waren dem Schicksal unterlegen. Moralvorstellungen, böse Plots oder Lektionen spielten dabei keine Rolle. Ironischerweise schienen ihre Entscheidungen seltsam willkürlich.

Zugegeben, heute lachen wir herablassend über diese, dem modernen Zeitalter fernen Vorstellungen. Es tut dennoch gut, die Dinge mal von einer anderen Perspektive zu betrachten und seine Phantasie ein wenig herauszufordern.

Als Kind beispielweise, hegte ich eine enorme Faszination für den Heiligen Geist. Auf alten Vintage-Kassetten taucht der Begriff unmissverständlich aus einem Schwall unverständlichen Kindergebrappels immer wieder hervor. Dadadayaya Heiliger Geist kaaaaammbfff . Das Prinzip einer unsichtbaren Kraft, leuchtete mir dabei nicht ein. Für mich war ganz klar: Wenn Jesus ein Mann und Gott sein Vater war, musste der Heilige Geist eine Art Onkel sein. Eine greifbare Person mit Nase, Mund und Augen, einen gelben Heiligenschein auf dem Kopf und gänzlich von grellem, weißem Licht umgeben. 
Manchmal tut es gut, die Dinge von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten … tun wir also doch mal spaßeshalber so, als sei das Schicksal auch so eine Art personifizierte Energie. Und da die Dreifaltigkeit - zumindest in meiner Vorstellung - doch eine sehr starke Männerdomäne ist und um der mythologischen Tradition treu zu bleiben, nennen wir sie spaßeshalber einmal Emma.

Die gute, alte Emma.

Unsere Freundschaft geht nun bereits schon einige Jahre zurück und sie ist wunderbar – eine von der Art, wo man nicht ständig in Kontakt sein muss, um ein gutes Verhältnis mit aufrecht zu erhalten. Manchmal hören wir uns monatelang nicht und dann wie aus dem Nichts, begegnen wir uns und alles ist wie früher. Ab und zu ruft sie mich zu Hause an, oder schaut unangemeldet in der Arbeit vorbei. Auf Reisen scheinen sich unsere Wege besonders oft zu kreuzen.

Bei meinem Solo-Kurztrip nach Rom vor einigen Jahren zum Beispiel.

Am ersten Tag klapperte ich, schwitzend unter der mediteranen Sonne, tapfer einige Sehenwürdigkeiten ab. Nachdem ich obligatorischerweise meine Hand in die „Bocca della Verità“ gesteckt hatte, verweilte ich spontan an einer Rouine - die sich nach genauerer Betrachtung als Baustelle entpuppte - um mich dann auf zur nächsten Attraktion zu ächzen. Angekommen drehte ich, den Pulli als Sonnenschutz vom Kopf baumelnd, den Stadtplan hin und her und hörte mit einem Mal aus dem Stimmengewirr meinen Namen erklingen. „Hä, Sara?“ Ich drehte mich um und starrte tatsächlich in das strahlende Gesicht einer alten Freundin aus Berlin. Wie sich herausstellte, wollte die Erasmusstudentin ihre Mittagspause eigentlich in einem Park am anderen Ende der Stadt genießen. Sie hatte sich dann doch kurzfristig für einen in der Nähe entschieden. Seit zwei Jahren hatten wir keinen Kontakt gehabt und nun standen wir uns fassunglos grinsend inmitten eines umtriebigen Touristenepizentrums gegenüber.

Ein knappes Jahr später. Ich buche ich einen Abstecher nach London - wieder allein. Eigentlich wollte ich ein paar Tage früher fliegen, aber aus irgendeinem mir nicht mehr ganz bewussten Grund musste ich die Reise um einige Tage verschieben. Ich schlendere also, voller Vorfreude – London Eye, Big Ben, Buckingham Pallace … aufgepasst, ich komme! – mit meiner überteuerten Frühstücksbrezel über den Münchner Flughafen zum Gate … als ein mir wohlbekanntes Gesicht in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Nicht zu fassen! Regina und ich waren um ein Jahr versetzt auf der gleichen Schauspielschule gewesen. Sie habe ich ebenfalls seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und nun steht sie, von Schwester und Freundin flankiert, vor mir und fragt sichtlich begeistert: „Fliegst du auch um 11 Uhr nach London?“

Eigentlich hatte ich nur geplant, zwei begehrte Reiseziele zu erkunden und ein bisschen Zeit mit mir selbst zu verbringen. Doch in beiden Fällen hatte ich unverhofft zwei lustige Begegnungen und die gemeinsamen Tage, die darauf folgten, werden für immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben. Danke, Emma.

Aber manchmal ist mir Emma auch ein Rätsel. Da macht sie sich die ganze Mühe, meinen Bekannten und seinen ihm bis dahin unbekannten Nachbarn am anderen Ende der Welt unter urkomischen Gegebenheiten zusammenzuführen... Und dann schafft sie es nicht, dass sich die Tochter meines Nachbarn drei Sekunden länger die Schuhe bindet, sodass sie drei Sekunden später das Haus verlässt und somit nicht von dem, zu schnell fahrenden LKW erfasst wird.
Aber wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie immer: „Das war ich nicht, das war Greta!“ Ah ja, Greta! Greta ist Emmas böse Zwillingsschwester. Sie taucht praktischerweise immer genau dann auf, wenn es Emma gerade nicht passt. Anders als Emma scheint Greta den Menschen gerne mehr oder minder harmlose Streiche zu spielen. Es ist absolut kein Vergnügen, Greta in seiner Nähe zu wissen. Sie ist das, was wir in unserem alltäglichen Sprachgebrauch einen  „dummen Zufall“ nennen würden. Die langsame Kassenschlange, der vergessene Schlüssel, die übersehene Rechnung...

Als Greta und ich das letzte Mal aufeinander gestoßen sind, hat sie mich mit dem Klingeln meines Handys beim Spühlmaschine Ausräumen abgelenkt. Eine Sekunde wendete ich den Blick ab und prompt splitterte ein Stück von meiner Lieblingstasse ab. Zugegeben, das ist nun kein weltbewegendes Drama. Es ist zwar ärgerlich, aber nichts, was sich nicht mit ein bisschen Heißkleber wieder reparieren ließe. Ich habe es aber auch schon erlebt, dass Greta Freunden auf der Skipiste einen Stein unter den Schnee legte, oder einen unsicheren Anfänger aus dem Nichts in ihre Fahrbahn lenkte. Der Arm, das Bein, die Hüfte ließ sich nicht mit etwas Heißkleber wieder hinbiegen.

Gottseidank scheint Emma und mich das Reisefieber gleichzeitig zu packen … nicht auszudenken, wen Greta mir über den Weg schicken würde … vermutlich meinen Exfreund mit seiner neuen Freundin, oder einen verhassten Lehrer aus der Schulzeit. Nein, nein … Emma ist mir definitiv lieber.

Allerdings habe ich - so sehr ich Emma und ihre Gutherzigkeit auch schätze -  auch meine Bedenken. Es kommt mir manchmal so vor, als ob sie uns ein wenig zu Egozentrikern mache.  Jeder versucht, sie für sich zu beanspruchen. Alles ist plötzlich ein Zeichen. Ein Wink Gottes, ein Stoß des Universums. Wenn wir uns selbst aber einmal kurz galant aus der Gleichung ziehen … dann scheint Emma mehr Fragen auzustellen, als sie beantwortet. Kann es wirklich sein, dass all die kleinen aufeinanderfolgenden „Nicht-Zufälle“, die in so einer Rom- oder London-Begegnung einhergehen müssen, nur passiert sind, damit ich eine gute Geschichte zu erzählen habe? Und haben all diese „Nicht-Zufälle“ vielleicht dazu geführt, dass andere Betroffene auf  ihrem Weg, völlig ahnunglos in Gretas Arme spaziert sind?  

Das Verrückteste ist, dass diese gegensätzlichen, eineiigen Schwestern sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Ich habe schon oft in einem Anflug von Panik Greta um die Ecke biegen sehen und erst nach einigen Momenten an ihrem gütigen Lächeln erkannt, dass es sich in Wirklichkeit um Emma handelte, die da mal wieder in mein Leben eingekehrt war.
Genau wie in der Geschichte des Mannes, der am Tag vor dem 11ten September von seiner Frau bekocht wurde und am Tag des Anschlags auf die Twin-Towers mit Dünnschiss zu Hause lag. Aus Rücksicht auf ihre Gefühle wollte er seiner neuen Ehegattin nicht verklickern, dass ihm an den Burritos etwas spanisch vorkam. Blöder Zufall, dass das erste Gericht seiner Frau, ihm eine Lebensmittelvergiftung einbrachte … dachte er, bis er die Bilder im Fernsehen sah. Ein klassicher Fall, bei dem Emma anfangs mit Greta verwechselt wurde.
Aber wenn ich Emma frage, warum sie nicht allen anderen knapp 3000 Menschen am Abend zuvor auch vergammeltes Hackfleisch untergeschoben hat, tut sie immer so, als würde sie mich nicht hören.

Es macht Schicksalsschläge leichter, wenn man denkt, dass alles einen tieferen Sinn hat – aber wie kann man sich wirklich sicher sein, wann Emma den Faden spinnt und wann Greta in die Wurzel schnitzt? Ist alles Teil eines größeren Planes? Ist alles nur dummer Zufall? Oder einfach der Lauf der Dinge im Leben auf einer Welt, die vielleicht keinen tieferen Sinn hat, als einfach zu existieren? Wo und wie spielen freier Wille und Eigenverantwortung eine Rolle? Ist der Zufall in Wirklichkeit das, was unser Leben dominiert und das Schicksal nur ein weiteres trauriges Opfer seiner Macht?

Vielleicht war es Schicksal, dass mein Mann seinen Rucksack vergessen hat. Oder aber, es war pures Glück. Wir hätten schließlich beide vor dem Aussteigen nochmal einen Blick ins Auto werfen können. Womöglich war es magnetische Anziehung des Universums, welche mich inmitten eines der belebtesten Plätze in Rom zu einer alten Freundin geführt hat. Oder vielleicht war es reiner Zufall. Schließlich habe ich wahrscheinlich schon viele unglaubliche Begegnungen wegen Schaufensterbummelns oder Eichhörnchenguckens um zwei Straßen verpasst.

Ich möchte mir nicht anmaßen zu wissen, ob so etwas wie Schicksal wirklich existiert. Vielleicht verhält es mit dem Schicksal so, wie mit den Religionen in der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“: Für jene, bei denen es funktioniert, existiert es auch. Ich persönlich glaube, man kann aus jeder Situation im Leben lernen und an ihr wachsen egal, ob Moiren, Nornen, Emma oder Gretchen dahinter stecken - oder eine Kombination aus allem... 
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Die Versammlung (Part 2) - von Lib Briscoe

8/6/2019

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The Participants

Takoda Schildkröte (m)………………………Eines jeden Freund…………….Sioux
Gomda Gibbon (m)………………………..Wind…………………………………Kiowa
Cheyevo Schimpanse (m)……………..Krieger des Geistes……………………..Hopi
Gaho Gorilla (w)…………………………….Mutter…………………….Unspezifizierter einheimischer Herkunft
Posala Schwein (w)………………………Abschied von den Frühlingsblumen……Miwok
Sitala Sau (w)……………………………….Durchdringende Erinnerung…………………..Miwok
Doba Delphin (w)………………………….Es gab keinen Krieg……………...Navajo
Wapun Wal (w)…………………………Dämmerung…………………………………..Potawatomi
Lallo Löwe (m)………………………………Kleiner Junge………………………………Kiowa
Lomahongva Leopard (w)…………….Aufsteigen schöner Wolken………..Hopi
Rowtag Rabe (m)………………………Feuer……………………………………….Algonquian
Wakiza Wolf (m)……………Verzweifelter Krieger…………Unspezifizierter einheimischer Herkunft
Donoma Hund (w)………………………….Sichtbare Sonne…………………………….Omaha
Bidzill Büffel (m)………………………..Er ist stark………………………….Navajo
Baishan Bienen (Schwarm)…………………Messer……………………………………..6 Nationen der Apache
Shikoba Sturnidae-Stare…………Feder………………………………….Choctaw
Eluwilussit Elephanten (Familie)………Heiliger………………………………...Algonquian

Die Delegationen

Gaho erhob sich langsam aus dem provisorischen Nest und machte sich auf in Richtung des Kreises. Als ihre jüngeren Artgenossen Anstalten machten, ihr zu helfen, bedeutete sie diesen mit einem beruhigenden Winken, das sei gewiss nicht nötig. Der Anlass verlangte, dass sie alleine ging. Es war unerlässlich, ein Erweis ihrer Kraft als Stammesälteste. Und es war Inspiration für die anderen, damit sie standhaft blieben. Sie hetzte nicht. Es gab keinen Grund dazu. Als sie sich näherte, trat Takoda an den vorderen Rand des Kreises und bekundete seine Anerkennung mit einem Kopfnicken. Sie berührte sein Gesicht und er erhob sich auf die Hinterbeine und lehnte seinen Kopf an ihren. Takoda sah sie an, dann sah er in das Stadion hinaus und sagte: „Lasst uns beginnen!“ Er kehrte zurück an seinen Platz. Gaho betrat die Plattform und sprach zu der Schar der Anwesenden.

Ich bin Gaho Gorilla. Als es noch reichlich Wälder gab, bevor das Land ungerecht verteilt wurde, war genug Platz da für uns alle. Die Früchte an den Bäumen dienten uns als Nahrung, die Blätter standen uns das ganze Jahr über als Delikatesse zur Verfügung. Wir richteten weiche Betten für unsere Neugeborenen her und kümmerten uns als Gemeinschaft um unsere Kinder und Enkelkinder. Unser Leben wurde von uns selbst bestimmt und obwohl wir wohlvertraut waren mit Tod und Sterben, war unsere Existenz in Einklang mit den Sommer- und Winterzeiten dieser Welt, dem Frühling und Herbst. Nun sind so viele von uns ermordet worden, unsere Kinder wurden gestohlen und missbraucht. Die Wälder, die uns einst Heimat waren, wurden dem Erdboden gleichgemacht und durch eine einzige Pflanze ersetzt, die uns nicht zum Unterhalt dienen kann. Manchmal leben wir in Gefangenschaft und manchmal ist es besser so. Aber selbst in wohlwollender Gefangenschaft, können wir nicht wahrhaft wir selbst sein und wir können unseren Kindern nicht beibringen und ihnen nicht helfen, jene zu werden, die sie in Wahrheit sind. Hinter Gittern sind wir erst gelangweilt, dann niedergeschlagen. Wir vergessen, eigenständig zu sein und das Elend zerfrisst unser Gemüt. Wir werden krank. Jene Menschen, die uns helfen wollen, sind viel zu wenige und sie haben nicht die Macht, alleine den Lauf der Vernichtung, die uns droht, umzukehren. Trotz ihrer Bemühungen ist der Weg, der uns bevorsteht, zweifellos Völkermord. Wir müssen selbst handeln!

Als sie fertig war, ging ein summendes Geräusch der Zustimmung durch die Menge. Sie wandte sich um und lief hinüber zu Takoda und Gomda und setzte sich zu ihnen in den hinteren Teil des Kreises, wie sie es besprochen hatten.

Zwei Weibchen von der Delegation der domestizierten Schweine näherten sich, sichtbar zitternd in Anbetracht der Gegenwart so vieler natürlicher Feinde. Gaho ging ihnen entgegen und breitete ihre langen Arme als Willkommensgeste aus. „Hier seid ihr außer Gefahr, dessen könnt ihr versichert sein.“ Sie lächelten voll Dankbarkeit und folgten ihr auf das Podium. Unsicher richteten sie den Blick in die Runde und begannen im Kanon zu sprechen.

Wir sind Posala und Sitala. Wir leben und sterben unter Menschen – wir wurden für diesen Zweck gezüchtet und wir haben dies über tausende von Generationen hinweg akzeptiert. Aber die Zeiten haben sich geändert und wir werden nicht mehr wie einst mit Respekt und Mitgefühl behandelt. Früher war im Hof genug Platz zum Rennen und Herumtollen, wie wir es lieben. Weiche Stallböden wurden für uns bereitgestellt, auf denen wir Kinder gebären und nähren konnten. Sie blieben bei uns, bis unsere Milch und unser Schutz nicht mehr von Nöten waren. Ja, wir wussten um ihr und unser Schicksal, aber dennoch gab es so etwas wie Würde. Heute ist das anders und wir sind traumatisiert. Wir sind gefangen in Käfigen, die keinen Bewegungsfreiraum bieten. Nicht einmal den Kopf können wir drehen. In diesen Zellen bringen wir unsere Kinder zur Welt, wir können sie kaum sehen, geschweige denn, uns an sie schmiegen, wie es sich für eine Mutter gehört. Manche sterben, manche werden von uns gerissen, gekappt und … irgendwo … entsorgt. Wir hören ihre Schreie und weinen vor Hilflosigkeit. Wir bringen mehr Kinder zur Welt, als wir zählen können und kennen die wenigsten von ihnen. Unsere Körper sind unnatürlich breit und wir sind schwach wegen des Mangels an Sonnenlicht und frischer Atemluft. Man lässt uns voller Geschwüre im Dreck liegen. Das Leben ist ein ständiges Leiden. Solche Menschen, die uns helfen wollen, gibt es viel zu wenige; und alleine haben sie nicht die Macht, dem Angriff auf unser Leib und Leben zu begegnen, der uns jetzt plagt. Trotz ihres Bemühens ist das, was vor uns liegt, ein Weg von ewiger Qual. Wir selbst müssen handeln.

Als sie die Plattform verließen, waren sie ganz ruhig. Das Mitleid, welches Gomda zuvor empfunden hatte, hatte sich in tiefen Respekt verwandelt. Ihre blanke Hilflosikeit war von einer untypischen, aber überwältigenden Tapferkeit und Entschlossenheit überragt worden, die der schieren Not entsprang. Und sie hatten die Gelegenheit ergriffen.

Als nächstes kamen Wakizo, der dem Clan der Wölfe angehörte und Donoma, der die Koalition der domestizierten Hunde repräsentierte. „Sie sehen sehr schön aus miteinander, diese Vettern“, sagte Takoda. „Die Hunde haben eine gute Wahl getroffen. Der Sibirische Husky ähnelt in seiner Erscheinung dem Wolfsclan sehr. Hier geben sie ein beeidruckendes Bild ab und hier werden sie erneut ihre Verwandschaft verspüren.“
„Wie wir auch“, sagte Gaho und sah Gomda an. Instinktiv kletterte dieser auf einen Ast, sprang weiter auf einen anderen und wieder zurück, um ihr seine tiefe Dankbarkeit für diese Anerkennung kundzutun.

Die Vierbeiner traten auf die Plattform.

Wir sind Wakizo / und Donoma. Wir sind Cousins / sehr unterschiedlichen Glaubens... Die Menschen sind unsere Feinde / Die Menschen sind unsere Freunde... Sie hungern uns aus und versperren uns den Weg zu unserer Nahrungsversorgung. / Sie geben uns zu essen, oft von ihrem eigenen Tisch... Wir werden täglich niedergemetzelt und wir werden immer weniger / Wir werden geliebt, aber die Dinge ändern sich... Wir sind Jäger und Nomaden, wir brauchen ein weiten Lebensraum, der aufgrund ihrer Gier nach Land, kleiner und kleiner wird / Wir wurden gezähmt und sind gewissermaßen Freunde. Aber die Verwandschaftszucht macht uns krank und schwach, bis hin zur Behinderung. Der Lebensraum, der zu unseren verschiedenen Rassen passt, wird ignoriert und wir leben in für uns ungeeigneten Klimata... Wir werden als spirituelle Wegweiser in ihren Büchern verehrt, aber in der Realität werden wir als Eindringlinge und Schädlinge angesehen. Unsere natürlichen Futterressourcen schwinden und wenn wir nach Nahrung suchen, wo wir sie finden können, werden wir auf jenen Ländern, die einst uns gehörten, niedergeschossen / Wir sind in ihren Häusern und wir lieben sie, wir verehren ihre Kinder, aber die Leinen werden enger, die Regeln strenger. Käfige werden mehr und mehr zur Normalität und unsere Mäuler werden zusammegebunden. Jene Freiheit, die wir einst genossen, schwindet schnell. Wir werden konstruiert und produziert und unsere Neugeborenen werden zu oft wie Müll in Tüten entsorgt... Die Bedingungen der Koexistenz sind unsicher und schwankend. Wir werden es nicht hinnehmen, wenn es keine Verlässlichkeit gibt. / Solche Menschen, die uns helfen möchten, gibt es zu wenige... und sie können nicht allein diesen Angriff von Entwürdigung umkehren. / Auch wenn es solche Menschen gibt, ist trotzdem auf Dauer der Weg unseres Schicksal ein Weg von Gefangenschaft... und Vernichtung. / Wir selbst müssen handeln.

Sie verließen das Podium und schritten mit feierlichem Ernst die Rampe hinunter. Als sie an ihre Plätze zurückkehrten, schlossen sich alle Wölfe und Hunde zu einem einzigen Rudel zusammen.

Ein tiefes Summen kündigte ihr Kommen an. Die Baishan Bienen flogen von einem versteckten Ort in der hohen Eibe hinab und blieben über der Plattform in der Luft stehen. Das Summen schwoll an und ebbte ab, als die Bienen sich, wie es ihr Element verlangte, um die Plattform herum bewegten. Und langsam formten sich als einheitliche Stimme des Clans Wörter aus dem dröhnenden Gesurre.

Wir sind die Baishan. Wir sind die Geschwister der Grünpflanzen und der Blumen und Blüten, die uns Lebensunterhalt sind. Indem wir den Nektar trinken, sammeln und sträuen wir den Samen aus, der neues Leben hervorbringt. Aber wir sterben. Wir werden vergiftet und wir werden immer weniger. Das Gift ist in den Bäumen, den Blumen und den Feldern. Es bringt uns um. Wir werden vergiftet und unsere Kolonien können nur in großer Anzahl gedeihen. Wenn wir in unsere Bienenstöcke zurückfliegen, wird das Gift mit ins Nest getragen. Es tötet viele, die Arbeiterinnen, die Wärterinnen, viele. Es tötet unsere Königin Mutter. Alle Bäume sind ein Baum, nicht die vielen, die wir brauchen. Zu wenig Nahrung. Wir hungern. Wir werden unberechenbar. Wir verlassen unser Nest und unsere Mutter. Ein neuer Feind greift uns an. Ein kleiner Feind dringt in unser Haus ein. Es haftet uns an und entzieht unseren Körpern jedwede Kraft. Wir sind geschädigt und werden schwach. Das frühzeitige Sterben verkleinert unsere Gemeinschaft. Der heiße Wind verändert unsere Blumengeschwister und unsere Körper wehren sich und sterben ab. Viele helfen uns, aber zu wenige. Zu selten. Zu spät. Unfreiwilliges Aussterben. Wir nehmen es nicht hin. Wir müssen handeln!

In einer ausschweifenden Bewegung, flogen sie aufwärts und verschwanden wieder in den oberen Ästen der gewaltigen Eibe.

Ein ohrenbetäumendes Brüllen erfüllte das Stadion und Takoda senkte trotz seiner angeborenen Fähigkeit, zumindest den Anschein von Ruhe zu bewahren, abrupt den Blick. Lallo vom Löwenclan preschte nach vorne, machte aus einiger Distanz mit langgestrecktem, kraftvollen Körper einen Rießensatz und landete in der Mitte der Plattform. Er wandte sich langsam um, begann mit gleichmäßgen Schritten vorne auf dem Podium hin und her zu gehen. Er gab dabei das gleiche Bild ab wie seine vielen Brüder, die in Zirkuswagen eingesperrt worden waren. Lomahongva vom Leopardenclan folgte etwas gemächlicher und sprang geschmeidig auf die Plattform. Er ließ sich in einer der vorderen Ecken nieder und bewegte seinen Schwanz angespannt von einer Seite auf die andere. Gaho bemerkte, dass diese majestätischen, selbstsicheren Raubkatzen in eine tiefe Niedergeschlagenheit gefallen waren, einer Depression sehr nahe. Obwohl sie nicht einfach zu verstehen waren, hatte sie dieses Verhalten bei ihren eigenen Landsleuten schon gesehen und erkannte es wieder. Keines der anwesenden Lebewesen gab es, das sich nicht vor ihnen hätte fürchten müssen, doch was sie nun alle empfanden war: Mitleid. Mitleid, das sie alle füreinander verspürten. Diese beeindruckenden Katzen hatten ihre Stärke verloren und es war ein harter Sturz gewesen. Lallo begann, zu sprechen, aber er sah dabei nicht auf. Es war nicht deutlich, ob er zu der Menge … oder zu sich selbst sprach.

 Wir sind Könige, oder nicht?  Wir waren frei, oder nicht? Die Illusion ist verblasst und die Gefahr, welche uns seit einigen Jahrhunderten umgab, ist greifbar geworden. Gefangen und eingesperrt! Eingesperrt und lächerlich gemacht. Verhöhnt, ausgepeitscht und verbrannt. Eingeschränkt und kontrolliert... Wir sind aus der Wildnis – es ist unser natürliches Recht! Keine andere Art, zu leben, ist befriedigend... Nun sind wir vor Machtlosigkeit geschändet. Die Angst, auszusterben, bestimmt uns. Der Schauder, der einst unsere Beute ergriff, befällt nun uns... Aber wir waren nicht grausam! Wenn unsere Bäuche gefüllt waren, lebte die Antilope neben uns in Frieden. Wir lagen tagelang geruhsam in der warmen Sonne und beobachteten wie unsere Jungen spielten und lernten. Morde, um Jagdtrophäen zu sammeln, Verletzung und Unterwerfung, das sind Haltungen von Barbaren. Das waren nicht unsere Untaten... Wir sind Einzelgänger, nur unserem eigenen Familienclan verpflichtet. Aber jetzt muss unsere Distanziertheit ein Ende haben – wir schließen uns euch an. Ihr habt unser Wort.

Lallo und Lomahongva schritten langsam die Rampe hinunter - in aufrechter Haltung und alle vier Beine ausgestreckt kehrten sie zurück an ihren Platz. Ihr bewusster Versuch, zu beweisen, dass sie keine Gefahr für die anderen darstellten, war erfolgreich und wurde außerordentlich geschätzt.

Ein Laut, dem Ruf der Affen ähnlich, aber höher und schärfer, kam aus der Richtung der Aquarien. Ein Mitglied der Doba Delphin Gemeinschaft forderte die Aufmerksamkeit der Versammlung ein, da die Wassertiere das Podium nicht nutzen konnten. Takoda, Gaho und Gomda liefen zur Spitze des Podiums, um einen vollständigen Blick auf diese großartigen Meeressäuger zu bekommen. Alle drei hatten ein Lächeln im Gesicht. Die Dobas weckten ein besonderes Gefühl in allen Lebewesen, die ihnen begegneten. Sie waren verspielt und machten gerne Späße. Doch sollte sich niemand in ihnen täuschen. Diese Tiere hatten einen scharfen Sinn für die Welt, die sie umgab und sie hatten schon viele Leben im Ozean gerettet. In ihren Stimmen lag eine große Heilkraft und ihr gemeinschaftliches Leben war so komplex wie jegliches andere Leben auf Erden. Der Wapun Waal sang gefühlvoll und erfüllte das gesamte Stadion mit herzzereißenden Klängen. Der Doba und der Wapun wechselten sich mit dem Sprechen ab, wenn einer von ihnen auftauchte, um Luft zu holen.

Wir sind Doba und Wapun. Die Meere werden warm und unberechenbar. Vieles, was lebte, erstickt und stirbt, die Strömungen verändern ihre Läufe und der natürliche Fluss von Fischleben und Pflanzenleben ist unterbrochen. Flora und Fauna am Übergang von Land und Wasser leiden schwer, ihre Versorgung ist mangelhaft, überwässert, ihr Überleben und das unsere gefährdet. Unsere Gewässer sind verschmutzt und unsere Fisch-Brüder und Meeresbewohner-Schwestern werden krank, deformiert oder sterben. Der Geschmack des Wassers ist bitter, sichtbare und unsichtbare Elemente der Vernichtung dringen ein in unsere Welt. Auch wir wurden gefangen und eingesperrt, aber jetzt haben viele Menschen unser Bedürfnis nach Freiheit und Familiengemeinschaft erkannt. Darüber sind wir froh und dankbar. Aber unsere Welt ist voll Abfall von den Angewohnheiten der Menschheit und bevor Konsequenzen überhaupt bedacht wurden, führte man ständig irgendwelche Neuerungen des Fortschritts ein. Und jetzt füllt eine neue Substanz unsere Bäuche, die wir nicht verdauen können. Wir sind voll und doch hungern wir. Dieses neue, nutzlose Gebilde ist nun in uns, in unseren Fisch-Brüdern, in unseren Vettern, die fliegen und es wird mehr und mehr mit jedem Wechsel der Jahreszeiten. Wir können kaum vermeiden, es zu verzehren, weil es überall ist. Millionenfach nimmt unsere Anzahl jährlich ab. Wenn wir nicht handeln, dann sind wir bereits tot!

Der schwere Wellengang ließ nach, als Wapun und Doba wieder ruhig in ihren Aquarien schwammen und das gesamte Stadion schwieg für einen langen, düsteren Moment.

Die Shikoba Stare stiegen mit dem Wind empor, ein Klang erhob sich mit ihnen, wie Winterwellen an der Westküste oder wie ein Wasserfall, der sich in ein Becken ergießt, das er ausspühlt und anfüllt. Zu tausenden tanzten sie im Himmel über dem Stadion in magischer Einheit und Harmonie, wirbelten und taumelten, formten und gestalteten Muster am Himmel. Wogend und verdichtend erschufen sie Bilder, die für einen Moment stehenblieben und sich im nächsten in ein anderes verwandelten. Alle sahen gebannt zu. Sie sprachen keine Worte und gaben kein Zeugnis. Stattdessen skizzierten die Shikoba himmlische Abbilder von allen, die an der Versammlung teilnahmen – Löwe, Adler, Präriehund, Igel, Büffel, Antilope, Frosch, Echse, Affe, Elefant, Lachs, Wal, Schildkröte... und alle anderen. Als jeder einzelne sah, wie sein oder ihr Abbild den Himmel füllte, fühlten sich alle zugleich geehrt und voll Ehrfurcht. Sie fühlten ihre eigene Bedeutsamkeit, waren sich aber auch bewusst, dass sie im Gleichgewicht mit der Bedeutsamkeit aller anderen stand. Der gewaltige Wind legte sich, als die Shikoba sich in die Bäume zurückbegaben.

„Umwerfend!“ sagte Takoda. „Wir wurden alle hoch erhoben“, sagte Gaho. „Ein Geschenk, das wir schätzen werden, wenn wir den Weg beschreiten, für den wir uns heute entscheiden.“ „Wir sind Körper und wir sind mehr als Körper“, flüsterte Takoda. „Die Shikoba haben uns daran erinnert und es wird weise sein, uns dessen zu besinnen.“ Er wollte den Bann nicht brechen, aber er atmete tief ein und sagte: „Wir müssen weiter machen.“

Drei Mitglieder des Cheyevo Clans liefen über das Feld, aufrecht, sich dessen bewusst, dass alle sie mit großer, doch angsterfüllter Erwartung beäugten. Sie waren die Verbindung zwischen der Menschheit und allen anderen Lebewesen und ihre Stimme hatte gewaltiges Gewicht. Der Hüter der Cheyevo hielt die Hand des Weibchens an seiner Seite, seine Frau und Gefährtin, bis sie die Mitte des Podiums erreichten. Sie schmiegte ihren Kopf an seinen. Dann ließen sie langsam los und alle drei drehten sich zu einander in tiefem Schweigen. Takoda, der diese Haltung als eine der Trauer kannte, stieg auf das Podium und sprach leise zu ihnen: „Cheyevo, wenn es Hoffnung gibt für einen anderen Weg, liegt es in eurem Wissen. Was sagt ihr uns?“ Takoda spürte den Blick des Hüters schwer auf sich lasten. Gomda und Gaho kamen die Rampe herauf. Sie lehnte müde auf dem jungen Gibbon, und ihre Kraft schien nun aus ihrem Körper zu schwinden. Beide kletterten auf eine der umstehenden Eiben. Der Hüter der Cheyevo begrüßte die Matriarchin mit großem Respekt und Sorge, grüßte seinen Cousin Gibbon und sah dann hinaus in die Menge, die zwei anderen seines Clans zu beiden Seiten hinter ihm.

Wir sind alles, was vom Cheyevo Klan übrig ist. Vor 50 Jahren, hatten wir noch Hoffnung. Heute haben wir keine mehr. Wir sind die engsten Verwandten der Menschen – vom selben Strang und vom selben Blut, obwohl sie uns verleugnen. Aber wir kennen sie. Sie sind besessen von ihrer Illusion der Überlegenheit und selbst erfundenen Haushalterschaft über uns. Wir brauchen sie nicht. Und die Zerstörung, die erfolgt ist, zeigt, dass sie Kreaturen von niederem Verstand sind. Wir alle sind abhängig von einander – dieses Bewusstsein ist tief in unserem Instinkt verankert. Aber zu unserem Unglück, nicht in ihrem! Unser Leben hat in ihren Augen nur drei Bestimmungen – wir müssen den Narren spielen, zu ihrem Vergnügen, wir müssen geschlachtet werden, um sie zu erhalten und wir müssen für ihre Experimente herhalten. Die Tragödie meiner unausgewogenen Artgenossen ist, dass sie über unsere Sitten und Gebräuche urteilen und uns primitiv und barbarisch nennen, während sie uns in jeder Sittenlosigkeit übertreffen. Sie behandeln sich gegenseitig so grausam wie sie uns behandeln und ihre Kriege sind für uns alle verheerend geworden. Sie lassen einander hungern, wie sie uns hungern lassen. Sie verweigern einander Zugang zu den Gärten der Fülle, wie sie auch uns den Zugang verweigern. Sie halten einander gefangen, wie sie uns gefangen halten. Wir haben solche gekannt, die unsere Not sahen und für uns kämpften. Und ich habe Siege gesehen und war glücklich. Aber die Menschheit ist unstetig. Das Versprechen des Einen bedeutet dem anderen nichts und das Versprechen wird gebrochen. Obwohl einige wahre Anteilnahme zeigen, ändern sie ihr Leben nicht, was sie auch um ihrer selbst willen tun sollten. Ihre genusssüchtige Abhängigkeit von unnatürlichen Annehmlichkeiten macht sie kurzsichtig. Der Menschheit als Ganzes kann nicht zugetraut werden, dass sie zu einer wirklichen Übereinkunft kommt. Denn selbst noch in ihrer letzten Stunde geht sie überaus unzuverlässig mit sich selbst um. Wir haben keine andere Wahl, als... zu handeln!

Die Cheyevo würdigten Gaho, Takoda und Gomda und gingen, wie sie gekommen waren – aufrecht, würdevoll und Hand in Hand.

Eine einstimmige Entscheidung

Tokado schritt zum Mittelpunkt des Kreises und stellte sich auf seine Hinterbeine. Viele Sekunden lang stand er still und spürte wie er in völliger Balance war mit seinem Körper und seinem Panzer. Stark, trotz seines hohen Alters. Er blickte auf die Massen seiner Mitgeschöpfe, die von Natur aus niemals so hautnah beieinander sein dürften. Aber sie waren alle, in diesem Augenblick waren sie alle einer Meinung. „Also sind wir uns einig.“ Die kleinen Säugetiere und Nager hoben ihre Vorderpfoten, die Vögel spreizten einen Flügel, dann den andern. Die Elephanten hoben ihre Rüssel und senkten sie wieder, die wilden Hunde nickten und knurrten, wie auch ihre zamen Vettern, einen einzelnen gemeinsamen Beller. Die Katzen schnurrten leise und die Farmtiere duckten sich auf den Boden. Takoda senkte sich auf den Boden, sah Gaho an und flüsterte ihr zu: „Dieser beginnt nur das Leid, das andere enden müssen.“*) Gaho kletterte von ihrem Platz auf dem Baumstamm zu ihm herunter: „Alle werden bestraft.“*) Sie legte den Arm um Takodas Panzer und dieser nickte in Richtung des wartenden Gibbon.

Gomda stieß ein langes, schrilles Pfeifen aus. Die Eluwilussit stimmten ein, erhoben ihre Rüssel und trompeteten zum hinauf Himmel. Die Wakizas und Donomas heulten in den sich herabsenkenden Nachtschatten und die Shikoba schlugen mit ihren Flügeln im schwindenden Sonnenlicht. Die Hyänen kläfften und knurrten und bissen in den Wind und die Wapuns sangen ihren Trauergesang. Die Dopas unterstützten den beklommenen Gesang der Wale mit Pfeifen und Klicken und kehligen Rhythmen. Die Bienen summten eine tiefe und düstere Basis für die Schreie der Cheveyos, der Posalas und Sitalas mit ihren tanzenden Mehrfachrhythmen. Die Bruderschaft der Bidzill schwankte hin und her und ließ mit jedem Schwingen ein tiefes Brummen vernehmen. Die Lallos und Lomahongvas hüpften über das Feld und sprangen auf die hohen Felsbrocken, fletschten die Zähne und gaben ein kehliges Brummen von sich, das sich steigerte und zu einem donnernden Gebrüll wurde. Rowtags tanzten mit den Adlern und Eulen zusammen im Himmel wie in einem leidenschaftlichen Wirbelsturm und alle Gebietsansprüche waren vergessen. Es war ein improvisiertes Orchester, das sich zum Höhepunkt aus Kummer und Verzweiflung steigerte und fortklang bis tief in die Nacht hinein. Im Morgengrauen schließlich war alles still. Alle hatten sich verausgabt und die Situation angenommen. Der Hungestreik hatte begonnen.

Als die Sonne aufging hielt die Stille unverändert an und während der Morgenstunden machten sich die Delegationen wieder auf ihren Weg. Sie liefen, krochen, hüpften, schlängelten und stolzierten in einer spontanen Prozession durch die Länge des Stadions und erwiesen sich dabei gegenseitig allerhöchste Rücksichtnahme und Achtung. Die Antilope hatte keine Angst mehr vor dem Löwen und der Hase keine Furcht vor dem Adler. Und als sie in ihren heimischen Behausungen angekommen waren, hielten sie dieses gegenseitige Versprechen ein und wankten nicht. Die Drossel ließ die Mücke vorbei fliegen und grub nicht nach dem Wurm. Der Hase fraß nicht das Blatt. Die Pollenverteiler verteilten keine Pollen und die Saatenverteiler verteilten keine Saaten mehr. Die Tiere der Erde, ob wild oder gezähmt, ob in Zoos und Naturparks eingesperrt oder in ihrem natürlichen Umfeld pflanzten sich nicht mehr fort und nahmen keine Nahrung zu sich. Auch nicht, wenn sie bedroht oder gezwungen wurden. Nicht einmal, wenn dieser Zwang aus Liebe und Fürsorge geschah. Sie starben, aber nun aufgrund eigener Entscheidung. Der langsame, passive Tod infolge Missbrauchs war ersetzt worden einen ehrenhaften Tod des Widerstandes. Sie beklagten ihren Verlust von Leben aber sie freuten sich über die Kraft der Selbstbestimmung.

Und endlich, endlich fühlte die Menschheit ihr bevorstehendes Zugrundegehen. Doch wie immer suchten die Menschen den Grund nicht bei sich selbst, sondern anderswo und gaben allem anderen, nur nicht sich selbst, die Schuld. Mit der Zeit begannen sie zu hungern. Dann kam der Tod. Denn ohne Tiere starb langsam auch die Pflanzenwelt ab. Die Menschheit entdeckte, dass sie die Ganzheit des empfindlichen Gleichgewichts der Welt nicht künstlich ersetzen konnte. Und sie begann zu spät, die Augen zu öffnen für die Notwendigkeit von Geschwisterlichkeit. Wie also die Tierwelt heulte, weinte, piepste und brummte vor Sorge, so jammerte auch die Menschheit vor Sorge... und ihre Stimmen vereinten sich. Die Menschheit wachte auf, horchte auf und hörte zu. Zum ersten Mal nach langer Zeit hörten sie zu... Und endlich... kurz bevor alles der Vernichtung anheimfiel, verstanden sie.

*) Zitate: Shakespeare, Romeo und Julia.


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Die Versammlung (Teil 1) - von Lib Briscoe

6/14/2019

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Vorbereitungen

Takoda Schildkröte trat aus der Öffnung der höhlenartigen Eingangshalle hinaus in das sonnendurchflutete Stadion, das seit Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch und daher überwuchert und von den Menschen, die es einst gebaut hatten, verlassen worden war.
Es war nach offiziellen Angaben das Größte seiner Art, hatte er gehört, beeindruckend zwar, aber wie sich wie sich herausstellte, unmöglich zu unterhalten – die Kosten überstiegen die Einnahmen. Das Stadion war selten voll gewesen. Interessant, dachte Takoda, die Menschen waren dem Gemeinschaftsgefühl sicher mehr zugetan, als sie selbst denken mochten. Doch offenbar hatten sich die Geschäftsleute übernommen. Die Menge an Besuchern, die nötig war, um das Stadion zu füllen, war zu groß, um konstant erreicht zu werden. Ihm und den anderen Organisatoren der heutigen Versammlung allerdings passte die Größe für ihre Zwecke perfekt. Er bahnte sich der Länge nach, den Weg durch das Amphitheater, langsam natürlich, denn das war die Geschwindigkeit, mit der die Natur ihn bedacht hatte. Aber er beklagte sich nicht. Es gab ihm Zeit – Zeit zu beobachten, Zeit nachzudenken und abzuschätzen. Er selbst neigte nie zu Hast oder Nachlässigkeit, dafür hatte die Natur gesorgt (obwohl Hast bei einer Schildkröte wohl selten von jemand anderem als von einer Schildkröte wahrzunehmen wäre); und das hatte seine Vorteile, weshalb das Komitee ihn für die anstehende Aufgabe auserwählt hatte. Und er hatte zugesagt. Sein offizieller Titel war “Koordinator”… aber er betrachtete sich eher als einen Fokuspunkt und eine, wie er hoffte, beruhigende Instanz. Er atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Als er die Mittellinie gegen Ende der anderen Seite überquerte, beobachtete er den Eluwilussit Elephanten Clan, der schon seit Monaten hier arbeitete und nun mit den letzten Phasen der Vorbereitungen für die Versammlung am übernächsten Tag beschäftigt war. Die Mitglieder des Clans leisteten, wie immer, großartige Arbeit. Die Wände und Tribünen auf der rechten Seite des Stadions waren herausgeschlagen und mit zwei kollossalen Glasbecken für die Delegation der Meeresbewohner ersetzt worden. Er schnappte nach Luft – es war ein wenig beängstigend, sich diesen Wall von Wasser vorzustellen. Anders als seine Cousins, die die meiste Zeit ihres Lebens mit Schwimmen verbrachten, war er nicht an die ungeheure Weite eines Meeres oder Ozeans gewöhnt. Er hatte im Laufe seines Lebens einige stattliche Gewässer gesehen, aber das hier schien so unnatürlich, was es freilich auch war. Dieses Ereignis war in seiner Gänze unnatürlich. Die Eluwilussit würden sie befüllen, eines mit Salz- das andere mit Süßwasser. Diese Angst, die er verspürte, würde er der wundervollen Kreaturen wegen, die die Behälter füllen würden, wegschieben müssen. Takoda blickte nach links. Entlang der Tribüne, bis dorthin, wo die Konstruktion sich von vorne bis hinten bog, hatten sie frische Waldblätter, Zweige, Erde und Unterholz ausgelegt für das Wohlbefinden der Delegationen der kleinen Waldtiere. Bäume waren für die Delegationen der Vögel errichtet worden, darunter war die Erde gestampft und Blätter und Unterholz für die Hufentiere hinzugefügt worden. Es gab hölzerne Ställe für die domestizierten Tiere, damit sie sich sicher fühlten, angesichts der Nähe zu den Wildtieren, deren Art sie nicht gewöhnt waren. Und es gab einen Bereich mit aufeinandergestapelten Felsbrocken für die Bergbewohner mit Öffnungen für die Reptilien, die kalte, dunke Mulden mochten und als Schutz und Hort für die Insekten. Der Elephantenclan hatte wie immer eifrig und sorgfältig gearbeitet. Takoda nickte jedem einzelnen zu, als er an ihnen vorbeiging, und sie schwangen den Gruß erwidernd ihre Rüssel.

Er erreichte schließlich sein Ziel – den Kreis der Versöhnung. Eine beachtliche Eibe, um die zwölf Meter hoch, mit einem gewaltigen Stamm, zierte den Hintergrund. Schwere, dicke Äste beugten sich entlang der urwüchsigen Form herab und schufen so eine neue Verbindung mit der Erde. Andere, mit Laub dicht bewachsene Äste, richteten sich nach oben und nach außen und warfen einen Dom aus Schatten rundherum. Takoda empfand Ehrfurcht in der Gegenwart dieses Baumes. In seinen Wurzeln wohnte die Weisheit der Ahnen, die sie so dringend nötig hatten. Und obwohl der Tod eine Rolle spielte, war die Grundlage seiner immerwährenden Geschichte ewiges Leben und die Verheisung von Auferstehung und Wiedergeburt. Er trat näher. Eine Öffnung am unteren Teil des Stamms, bot Zugang zur düsteren Gewölbegruft des Baumes. Groß genug für zwei Elefanten. Er wunderte sich, wie die Eluwilussit ein solches Gebilde unbeschadet transportieren konnten. Er fragte jedoch nicht danach und ließ seine Verwunderung und Ehrfurcht stehen. Gomda war bereits da und bereitete das Essen zu. Die Mischung aus tropischen Blättern, Früchten und Wasser im Loch am Boden, das mit Palmblättern ausgekleidet war, boten einen willkommenen Anblick. Er war müde von der Reise. Der junge Gibbon sollte sein Gehilfe sein und er war froh darüber. Sie hatten sich auf der Insel in den weiten östlichen Gewässern kennen gelernt und er hatte Gomdas schelmische Art und sein freundliches Auftreten sofort gemocht. Takoda fand seinen weißen Bart und die weißen Augenbrauen im Kontrast zu dem schwarzen Fell atembraubend und seine Bewegungen in den Bäumen schön, grazil und sicher. Sein elegantes Morgenlied weckte täglich den schlafenen Wald. “Ist alles bereit?” fragte Takoda. “Klar, großer Alter, was denkst du?” war die freche Antwort des Gibbon. Takoda kicherte und dachte daran, dass er 200 werden würde, wenn er die nächsten 20 Jahre überstand. Sie saßen beisammen in der Öffnung des Baumes, aßen ein wenig und plauderten, bis die alte Schildkröte seufzte und sagte: „Zeit, die Bäume vorzubereiten.“ Der Haupteil des Kreises der Versöhnung war nach der antiken megalitischen Struktur gestaltet. Jenseits der Erinnerung erbaut, als die Menschheit noch Himmel und Erde verband. Als sie den heiligen Kreis noch ehrten und das Gefühl einer universellen Verwandtschaft noch verspürten. Aber statt Steinen, hatten die Elephanten sieben gerade, junge Eibenbäume gepflanzt, um den heiligen Kreis zu schaffen. Zu Ehren des erneuerten Lebens, der Verwandlung nach dem Tod und antiker Weisheit. Jede um die zwei Meter hoch, die Blätter schirmartig angeordnet - eines dieser Gebilde oben an der Krone wie eine Kappe und vier oder fünf aus dicken Ästen am Stamm herausragend. Ein Podium wurde in der Mitte aufgestellt, mit einer Rampe, die nach hinten ausgerichtet war zur alten Eibe und einer zweiten nach vorne zum Stadion hin. Auf dieser Plattform konnte jedes Geschöpf sein Anliegen ohne Unterbrechung vortragen und kein Lebewesen durfte von den anderen angefallen werden. Sie machten sich an die Arbeit, der eine nutzte die Kraft seines Kiefers, der andere die Geschicklichkeit seiner Hände und Füße, bis jeder Stamm glatt war und eine hellbraune Färbung bekam. Gomda kletterte auf den letzten Baum und ließ sich an einem Arm von einem der kräftigeren Äste baumeln. „Ich flog durch diese Baumkronen am Bauch meiner Mutter. Als junge Gibbons spielten wir Wettspringen und Weitspringen von Ast zu Ast.“ Er hielt inne und blickte in eine ferne Richtung. „Unsere Gemeinschaft gedieh gut in diesen Bäumen, wo wir unsere Nester bauten und aufeinander Acht gaben.“ Takoda sah Gomda voll Trauer und Mitgefühl an. „Ich weiß. Es tut mir Leid. Sie waren einst ein glückliches Zuhause und eine sichere Zuflucht.“ Sie setzten sich an ihren Platz am äußeren Ende zwischen der alten Eibe und dem Kreis und erfrischten sich. Eine Witwe der Eluwilussit kam zu ihnen herüber. „Das Befüllen der Aquarien dauert seine Zeit, aber morgen wird alles bereit sein ,“ informierte sie die beiden. „Vielen Dank, Gnädigste,“ gab Takoda zurück und neigte den Kopf vor ihr. Sie und Takoda sahen sich an. „Wir haben vieles gesehen, du und ich, viel Veränderung und viel Verlust,“ beteuerte sie, „aber das hier hatte ich nicht erwartet.“ „Ich auch nicht,“ gab Takoda leise zurück. Sie wandte sich um, zu gehen, dann drehte sie ihren mächtigen Kopf zu ihm um. „Es gibt keinen anderen Weg?!“ Ob dies Frage war, oder Aussage, das war womöglich ihr selbst nicht klar. „Ich befürchte,“ sagte Takoda in seiner langsamen, überlegten Art, „nein.“ Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Takoda und Gamda aßen, ohne ein Wort zu wechseln.


Die Zusammenkunft

Die Gorillas kamen am Morgen des nächsten Tages an. Gaho, die Sippenälteste und Wortführerin, brauchte einen Tag um sich auszuruhen. Takoda freute sich, sie zu sehen. Trotz ihrer angsteinflößenden Erscheinung waren die Gorillas , wie er wusste verspielt, ruhig und friedliebend. Gaho hatte, wie er selbst auch, sowohl Freiheit wie Gefangenschaft gekannt – ihre Meinung würde sehr geschätzt werden. Die Gorilla-Delegation suchte sich einen schattigen Platz leicht abseits der Bäume aus und machte aus den bereitgestellten Blättern und dem Unterholz ein weiches Nest für Gahos Wohlbefinden.

Im Laufe des Tages, reisten die kleineren Säugetiere und Nager an, alle eilig darauf bedacht, einen sicheren Platz auf den Tribünen zu finden, bevor die großen Katzen und Vögel auftauchen würden. Trotz der Vereinnbarung waren sie noch immer misstrauisch. Der Überlebensinstinkt von Jäger und Gejagten war in ihnen allen tief verwurtzelt. Gomda beobachtete wie sie umherwuselten und raschelten und dachte bei sich, wie dankbar er war, dass er sich sicher in den Bäumen bewegen konnte, bis ihm der ernüchternde Gedanke kam – dass dies seine Familie auch nicht gerettet hatte.

Als sich der Tag zu neigen begann, kam die Vogel-Delegation, ob Einzelvertreter, wie Adler oder Eule, oder als Kollektivvertreter, wie die Schar der Staren, alle waren sie sehr darauf bedacht, sich nicht gegenseitig in die Flugbahn zu geraten. Die Notwendigkeit, sich zivilisiert zu verhalten, leuchtete ihnen allen ein. Eine Übereinstimmung, die Geist und Willenskraft erforderte. Nur durch Solidarität konnte ihr Ziel erreicht werden. Sie breiteten sich in den Bäumen aus, die größeren Vögel weiter oben, was die Nager ein wenig verunsicherte, und die kleineren fanden in den tiefer gelegenen Aussparungen der Äste und Blätter Zuflucht. Sie taten ihr Bestes, um sich gegenseitig das zuzugestehen, was jeder an Raum und Wohlbefinden für sich brauchte.

Takoda und Gomda begrüßten alle Gruppen wie sie eintrafen und waren froh, dass, bisher jedenfalls, alle Recht und Ordnung einhielten. Keiner hatte Angst vor den beiden, sie genossen von allen Lebewesen am meisten Vertrauen … unter anderem, weil keiner der beiden wirklich Fleischfresser war. Als sie also alle baten, sich für die Nacht zur Ruhe zu legen, da bis zum nächsten Morgen niemand mehr erwartet wurde, taten die Delegationen dies mit relativer Zuversicht. Relativ, doch nicht ohne Wachdienste. Sie konnten und wollten sich nicht von dieser Gewohnheit frei machen. Sicher war sicher und Wachsamkeit war in ihre DNA einprogrammiert.

Früh am nächsten Morgen wurden sie alle von einer langsam anwachsenden Erschütterung des Bodens geweckt. Die Stare schnatterten und zwitscherten wirr durcheinander, während der Adler und die Eule losflogen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die kleineren Erdenbewohner wuselten hin und her, hielten mitten in der Bewegung inne und wiederholten dieses Bewegungsmuster von vorne. Panik hatte sie ergriffen. Nirgends konnte man sich verstecken. Gomda sprang instinktiv auf Takodas Panzer und weiter auf eine der Eiben, den höchsten Punkt in unmittebarer Nähe. Takoda sah zu dem zurückkehrenden Adler auf, der sanft krächzte. Nach einem kurzen Moment sagte er: „Die Büffel sind hier, zusammen mit den Gazellen und Rehen, die des Schutzes wegen mit ihnen gemeinsam gereist sind. Sie stürmen nicht. Um Pünktlichkeit zu gewährleisten, reisten sie mit hohem Tempo an, welches sie jetzt zu einem langsamen Marsch reduziert haben.“ Der Boden hörte langsam auf, zu vibrieren. Gomda kletterte vorsichtig herab und sah nervös zur Öffnung hin. Reglos, gleichsam wie festgefroren. Ein gewaltiger Schatten breitete sich aus und die Büffel kamen in Sichtweite. Der große Bitzill vorne weg, kamen sie durcheinander mit Gazellen und Rehen einer nach dem anderen herein. Sie trotteten mit der größten Leichtigkeit, zu der sie fähig waren, hinüber zur Prärie-Fläche und das gesamte Stadion bließ dankbar die Luft aus den gepressten Lungen )

„Achtung!“ kreischte die Eule, „Nach ihnen kommen die Katzen!“ Der Augenblick der kurzen Erleichterung war vorbei und von Neuem machte sich Panik breit. „Sie haben Angst“, sagte Gomda leise zu Takoda, „dass Lallo und Lomahongva ihr Versprechen nicht halten werden… ich übrigens auch!“
Takoda beobachtete den Löwen und den Leoparden, als diese näher traten. „Sie sind in der Tat sehr leise, nicht wahr?“ sagte er besorgt. Er hatte keine Angst vor ihnen. Es gab anderes, wovor man viel mehr Angst haben musste. Aber ihre Anwesenheit verlangte dennoch nach … Achtsamkeit. Als die Raubkatzen ganz bewusst vorbei liefen in Richtung des Kreises der Versöhnung, wichen die Huftiere soweit zurück, wie sie konnten, der Tatsache bewusst, dass sie keine Chance hatten, falls ein Angriff käme. Takoda wartete reglos, als sie schweigend näher traten. Ungefähr einen halben Meter vor der Öffnung des Kreises drehten sie nach Takodas linker Seite hin ab und ließen sich in der Nähe der Wasserbehälter nieder. Eine klare Aussage, dachteTakoda, und wirkungsvoll.

Zum Schluss kamen die Meeresbewohner und die domestizierten Tiere. Das war die letzte Aufgabe der Eluwilussit. Sie begleiteten die Hof- und Haustiere zu ihren Ställen. Manche von ihnen hatten solche Angst, dass man sehen konnte, wie sie zitterten. Es war ein deutliches Zeichen ihres Mutes, dass sie überhaupt gekommen waren. Die Tore wurden geschlossen und die Elefanten auf den Wachposten machten sich auf zu ihren Artgenossen und halfen ihnen, die Fuhrwerke mit den Waalen und Delphinen hereinzubringen und - überraschenderweise auch mit einigen Fischen, die es nicht in Ordnung fanden, dass sie ausgeschlossen sein sollten. Sie hatten natürlich Recht. Jene, die Luft atmeten sollten, zur Erleichterung der Kommunikation, die Wortführer sein, aber dennoch hatten sie das Recht, anwesend zu sein, ihre Meinung kund zu tun und abzustimmen.

Es war nun Mittag geworden. Sie würden essen und sich ausruhen und dann am späten Nachmittag mit der Versammlung beginnen. Das war ein zeitlicher Kompromiss zwischen den Nachttieren und denen, die ihr Leben tagsüber führten. Sie alle hatten sich darauf geeinigt, dass sie die Entscheidung mit den letzten Lichtstrahlen der Dämmerung fällen würden.
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Kehrseiten - von Lennora Esi

4/18/2019

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„Die Göttliche Komödie wäre ein überaus sensationelles Werk, wenn Dante statt in der Hölle im Konzentrationslager gewesen wäre“ H Szuman

Herbst 2009. Unsere Abschlussfahrt stand an und meine Freunde und ich beschlossen, die 17-stündige Zugfahrt nach Polen auf uns zu nehmen, um eine Woche in der schönen Stadt Krakau zu verbringen. Krakau – was für ein großartiges Reiseziel … Der Wind scheint mit jedem seiner Atemzüge - durch die engen Gassen und über die gepflasterten Straßen - eine Welle der Magie zu hauchen. Trompetenklang ertönt zu jeder vollen Stunde vom Glockenturm in alle vier Himmelsrichtungen und während Jazzmusik in den Kellerkneipen den Boden unter den Füßen im pulsierenden Takt vibrieren lässt, tragen die Geschichten von verzauberten Tauben, die einst Ritter waren einen mit jedem Schlag ihrer Flügel davon. Und damals konnte man ein Bier für ungefähr 50 Cent kaufen, was unsere jung-kargen Taschen und jugendliche Herzen gleichermaßen zufrieden stellte.

Aber der hauptsächliche Grund, warum ich mich damals für Krakau statt Wien entschied, war der geplante Besuch in Auschwitz-Birkenau am dritten oder vierten Tag.
Wer in Deutschland aufwächst, kann der Geschichte nicht entkommen … nicht mehr … dafür hat die Generation unserer Eltern gesorgt. Keine Verhüllung der Wahrheit, keine Verfälschung der Vergangenheit … 6 Millionen Juden, 200000 Roma, 250000 Menschen mit Behinderung, 70000 Straftäter und sogenannte Asoziale, Homosexuelle, politische Gegner, Kriegsgefangene … Leben … genommen für eine Ideologie, eine Idee und den Größenwahnsinn, nicht nur eines einzelnen Mannes … sondern einer ganzen Nation.

Durch das breite Tor mit dem bekannten Schild „ARBEIT MACHT FREI“ zu gehen und der Touristenführerin zuzuhören, die die Fakten herunterrasselte, war somit kaum mehr als ein „das-Textbuch-mit-eigenen-Augen-sehen“ … Es herrscht unbestreitbar eine schaurige Energie, ja … aber wir kannten dieses Gefühl bereits von Dachau, Jüdischen Museen und diversen Gedenkstätten.
Also unterhielten wir uns – Wie seltsam, dass diese eigentlich ganz hübschen Ziegelhäuser etwas so Böses beherbergt hatten – Der Besuch des Holocaustüberlebenden in der Schule damals, wisst ihr noch? Mann, das war krass! - Verrückt, dass das alles vor nicht mal einem Jahrhundert passiert ist ...
Und dann betraten wir eines dieser eigentlich ganz hübschen Ziegelhäuser … dickes Schweigen prallte uns entgegen, wie eine Betonwand und die Unterhaltung verstummte angesichts der plötzlichen Härte. Der Geruch von etwas … so Altem … , dass es nur tot sein konnte … stieg uns in die Nase.
Wir sind so gewohnt, die Welt mit den Augen wahrzunehmen, dass wir, wenn unsere anderen Sinne etwas zuerst aufspüren, nicht ganz verstehen, nicht ganz begreifen können, was wir zu denken oder zu fühlen haben. Alles, was wir wussten war, dass etwas Schreckliches auf uns zukam. Und als meine Augen meine anderen Sinne eingeholt hatten, vernebelte es mir den Blick vor Unglauben und doch sah ich so klar wie eh und je.
Hinter Glas, entlang einer Wand, die sich kilometerweit zu erstrecken schien, befand sich ein Meer aus grauem, leblosem Menschenhaar. Haar, welches gute 65 Jahre zuvor lebenden Menschen von ihren Köpfen geschoren worden war.
Von dort traten wir in einen Raum voller Koffer, auf denen die Namen der ehemaligen Besitzer noch immer in weißer Farbe geschrieben standen. Von da … ein Raum mit Schuhen … ein Raum mit Beinprothesen und hölzernen Gehstöcken. Mit jeder Barracke neuer Horror … Mahnbriefe dessen, wozu Menschen fähig sind.

Ich weiß noch genau, wann der emotionale Damm, den ich versucht hatte aufrecht zu erhalten, mit einer gewaltigen Tränenwucht auf mich einbrach, die ich für den Rest unseres Aufenthalts nicht aufhalten konnte … weil es meiner besten Freundin genau im selben Augenblick passierte. Es waren die Brillengestelle - goldfarbene Gestelle, deren Gläser entfernt worden waren und die auf einen Haufen geworfen worden waren …. aufgetürmt, wie eine Metapher für die Leichen, die einst sorglos zu einem menschlichen Lagerfeuer gestapelt wurden … die Sicht ihrer Besitzer zweimal gestohlen.
Ich weiß nicht, warum die Brillen so eine starke Wirkung auf uns hatten. Vielleicht wegen der Verwundbarkeit, die sie verkörperten. Vielleicht weil es der letzte Streich war, nach all den anderen Dingen, die wir gesehen hatten. Vielleicht weil niemand sonst ihnen Aufmerksamkeit zu schenken schien, so wie Nachbarn, Freunde und Kollegen damals sich entschlossen hatten, wegzusehen … Ich weiß nicht, was es war … alles, was ich weiß ist, dass mein Herz für den Rest der Führung durch Auschwitz und Birkenau gänzlich gebrochen war. Das Einzige, was das Ganze erträglich machte, waren meine Freunde, die … jeder auf seine Weise … denselben Schmerz empfanden.

Ich erinnere mich, wie wir durch eine der kleineren Barracken gingen, die mit Schwarz-Weiß-Fotografien von kleinen Kindern zugepflastert war … die jüdischen Kinder, die an dem selben Ort ermordet worden waren, an dem wir nun standen. Meine Freundinnen und ich standen eng zusammen, Arm in Arm hielten wir uns an einander fest und dachten an diese jungen verlorenen Leben, als wir vor der „Schwarzen Wand“ … der „Todesmauer“ standen, wo die Nazis Kugeln durch die Körper unschuldiger Menschen geschossen hatten.
Es war hart, es war schmerzhaft und mein Herz brach an diesem Tag etliche Male mehr, als im Lauf des ganzen Jahres.Aber das, was mich vollends niederschlug … was ich nicht vergessen werde, solange ich lebe … geschah auf der Busfahrt zurück in die Stadt.

Wir waren gerade stundenlang über diesen riesigen Friedhof gewandert … ein Friedhof den, ob es uns gefällt oder nicht unsere Vorfahren geschaffen hatten … und alles, worüber sich viele meiner Mitschüler auf dem Weg zurück unterhielten war, dass sie es kaum erwarten konnten, zurück zu kommen, um ein Nickerchen zu machen, was sie zu Abend essen würden und wie betrunken sie heute Nacht sein würden. Schiere und blanke Gleichgültigkeit. Keine Empörung, keine Diskussion, keine Trauer … nur dummes, oberflächliches „Millenial“-Gelaber.
Erst Jahre später begann ich zu verstehen, wie sie sich von dem, was wir gesehen hatten so abgrenzen konnten. Nicht weil sie, gleich was ich damals dachte, kaltherzige Menschen waren, aber wegen des Spruchs, der über unserer Geschichte steht: NIE WIEDER!
Wir lernen, uns zu erinnern, aber wir werden auch in einer Art falscher Sicherheit gewogen - es ist Geschichte ... vorbei ... abgeschlossen ... und es wird nicht wieder passieren.

Ich wurde am 27sten Januar 1991 geboren. Der 46ste Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Komischerweise reagieren die Leute, wenn ich ihnen das sage auf eine „Oh mann – das tut mir leid für dich“ - Art und Weise … Ich habe es immer als etwas Positives empfunden.
Wie dem auch sei, dieses Datum kennzeichnet für mich zweifellos einen wichtigen Tag und so beschloss ich dieses Jahr, im Rahmen unserer Arbeit bei der „Amnesty-International-Lehr-Gruppe“, eine Veranstaltung für den 74sten Jahrestag der Befreiung zu organisieren.

Der Opfer gedenken heißt sich zu erinnern. Sich erinnern heißt, die eigene Geschichte zu verstehen. Und seine Geschichte verstehen sollte heißen: zu versuchen, von ihr zu lernen.
Doch seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir „Nie Wieder“ immer und immer wieder passieren sehen. Die Völkermorde in China, Kambodscha, Ruanda und Bosnien, den Rassismus in der Rassentrennung in den USA und Apartheid in Südafrika, die religiöse Diskriminierung in Orten wie Birma, Irland und vielen Ländern im Nahen Osten und nationalistische, rechte Politik hat in den letzten Jahren mehr und mehr Anklang in westlichen Ländern gefunden.
Ehemaligen Opfern zu gedenken heißt, zu versuchen neue Opfer zu vermeiden. Um das zu tun, muss man die Unterdrücker aufhalten; und um Maßnahmen für irgendwas zu ergreifen – muss man wissen, gegen wen und was man auf der anderen Seite antritt.

Ca. 80% der Todesfälle infolge von Waffengebrauch in der schwarzen Bevölkerung der USA sind Morde. 80% der Todesfälle infolge von Waffengebrauch in der weißen Bevölkerung der USA sind Suizide. Mädchen und junge Frauen drücken ihren inneren Schmerz oft durch Ritzen, Magersucht und Bulimie aus, während Jungs und junge Männer sich eher Gangs anschließen und sich als Hooligans auf einem Feld treffen, um sich gegenseitig stumpfsinnig die Köpfe über ihre Lieblingsfußballmannschaften einzuschlagen. Selbstverachtung und nach außen gerichteter Zorn – Kehrseiten der gleichen Münze. Derselbe Wert: Gewalt! Dieselbe Währung: Hass!

Wie kommt man dazu, einer extremistischen Gruppe beizutreten? Nach allem, was wir wissen, nach allem, was die Welt gesehen hat, warum würde man noch immer solchen Ideologien Glauben schenken? Was um alles in der Welt könnte einen dazu motivieren, ein Leben voller Hass zu führen? Und wie kommt man physisch und geistig dazu, sich zu ändern und dieses Kapitel seines Lebens hinter sich zu lassen?

„Verletzte Menschen, verletzen Menschen.“ Y Berg

Das Gegenteil von Hass ist nicht Liebe, sondern Barmherzigkeit. Im Juni 2011 lud der „Summit Against Violent Extremism“ (Gipfeltreffen gegen gewalttätigen Extremismus) ehemalige Radikale aus verschiedensten Hintergründen ein, zusammen zu kommen und gemeinsam nach Antworten auf die Frage zu suchen, weshalb sie fanatischen Bewegungen beigetreten waren - und warum sie diese wieder verlassen hatten. Ehemalige Skinheads, Verfechter der weißen Vorherrschaftsbewegung, Islamisten, Gangmitglieder, konservative Priester … alle waren sie zusammengekommen, um zu verstehen und um eine gemeinsame Grundlage und Wege zu finden, junge Leute vor denselben Fehlern zu bewahren.

Was sie herausfanden war, dass, egal wie verschieden die Ideen, Ideologien oder Methoden dieser Organisationen sein mochten, die Gründe einzusteigen, dieselben waren:
Das Gefühl von Zugehörigkeit, Stärke und Solidarität, indem man die Vorstellung von Überlegenheit einer anderen Rasse, Religion oder Gruppe gegenüber skizzierte und durchsetzte.
Und der Grund auszusteigen? Weil sie Mitgefühl und Barmherzigkeit von jemandem erfahren hatten, von dem sie nicht glaubten, dass sie diese verdienten.

Der Hauptredner bei unserer Veranstaltung im Januar war Tony McAleer, der Präsident des Verwaltungsrates der Nord-Amerikanischen Exit-Gruppe „Life After Hate“, welche nach dem Gipfeltreffen in Dublin gegründet wurde. Ich hatte der Organisation eine Email geschrieben, ohne große Hoffnung, dass es tatsächlich klappen würde … aber Tony kontaktierte mich ein paar Tage später und sagte, er würde gerne an unserer Veranstaltung reden. Selbst ein ehemaliger Verfechter der weißen Vorherrschaftsbewegung, hatten sich Tonys Ansichten und Einstellungen geändert, nachdem er Vater wurde und von seinen Kindern bedingungslose Liebe erhielt – ein Geschenk, das er seiner Meinung nach, nicht verdient hatte.

Vor einigen Jahren, als Tony schon sehr aktiv gegen den Faschismus eintrat, wurde er für eine Dokumentation angefragt, die in Auschwitz gedreht werden sollte.

Als ich Auschwitz besuchte wusste ich: hätte ich damals gelebt, wäre ich als „Mischling“ möglicherweise ein Opfer gewesen. Eine beängstigende Erkenntnis.
Tony besuchte Auschwitz und ihm war klar: hätte er damals gelebt, wäre er zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben ein Nazi, ein Wächter und Mörder gewesen wäre. Eine absolut untröstliche Erkenntnis.

Wir alle haben Dinge in unserer Vergangenheit, auf die wir nicht stolz sind. Dinge, die wir am liebsten verstecken, wegschließen und nie wieder erwähnen würden.
Stelle dir vor, all diese Leichen, all diese verborgenen Büchsen der Pandora, würden sich mit einem Mal und mit einer solchen Wucht auf deiner Brust entladen, dass du kaum mehr zu atmen vermagst.
Stell dir vor, Jahre deines Lebens den Holocaust geleugnet zu haben, behauptet zu haben, dass die Zahlen nicht stimmen könnten, dass die Kinder nie existiert hätten, dass die Koffer von den Amerikanern dort hingebracht worden seien, dass alles von den Juden erfunden worden sei, um eine Art Weltherrschaft zu erlangen …
Und dann stell dir vor, durch Auschwitz zu laufen, die Haare zu riechen, die lachenden Gesichter später unschuldig ermorderter Kinder zu sehen, die Masse an Protesen, Brillen und Schuhe wahrzunehmen.
Und dann stell dir vor, einen Platz in all dieser Scham suchen zu müssen, um dir selbst zu vergeben.

So wie in der schwarzen Gesellschaft Armut von den Anführern krimineller Gangs ausgenutzt wird, so wird Unsicherheit in der weißen Bevölkerung von den Anführern der Gruppen ausgenutzt, die Hass kultivieren.
Scham treibt Menschen dazu, sich selbst weh zu tun und Scham treibt Menschen dazu, anderen weh zu tun. Scham ist eine so alles vereinnahmende Emotion, dass sie irgendeine Art von Ventil braucht – sie ist so unerträglich, dass man einen Weg finden muss, sie loszulassen ...

„An Ärger fest zu halten ist wie Gift zu trinken und zu hoffen, dass jemand anderes daran stirbt“ Unbekannt

Vergeben ist nicht Vergessen – aber manchmal kann sich Vergebung anfühlen wie Betrug. - Wie kannst du dem Partner, der dich betrogen hat und fremdgegangen ist, verzeihen? Hast du keine Achtung vor dir selbst? Wie kannst du dem Autofahrer, der dein Kind umgebracht hat und Fahrerflucht beging, vergeben? Hast du keine Achtung vor der Erinnerung an dein Kind?

Man kann vielleicht die Person von der Ideologie trennen. Aber wo zieht man den Schlussstrich und wann und wie trennt man die Menschen von ihren Taten? Wo hört ein gescheitertes System auf und wo fängt Eigenverantwortung an? Wir tendieren dazu, Menschen auszugrenzen, die nicht derselben Meinung sind wie wir. Wir stempeln sie als dumm, ungebildet und schlichtweg als schlechte Menschen ab und belassen es dabei.

Viele Rechtsradikale bleiben nicht ihr Leben lang Extremisten weil, wie Tony es erklärte, es sehr anstrengend ist, in ständiger Wut und Hass zu leben. Ich glaube also, die wirkliche Frage ist: Wem tut man am Ende weh und wie viele Freunde statt Feinde könntest du dir machen, indem du schlicht und einfach zuhörst und versuchst, die Quelle des Schmerzes hinter den Worten zu finden? Ich bin ganz ehrlich ... es ist schwer und es ist eine Herausforderung und da ich ein sehr emotionaler Mensch bin, bin ich mir nicht sicher, ob ich das kann.
Aber ich will es versuchen!

Eine Münze wird nie ihre eigene Kehrseite sehen … also muss man sie zum Schmelzen bringen ... die Schranken brechen und die Grenzen überschreiten ... diejenigen, die anders sind und denken, suchen ... Diskussionen führen … und von da an gehen wir weiter. Es liegt immer mehr hinter der Geschichte eines Menschen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Wir alle haben Platz nach oben … Und Meinungen können sich ändern, wenn man ihnen den Raum dazu lässt.
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Januar 2019 - von Lib Briscoe

1/15/2019

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Ich sitze am Fenster meines Schreibzimmers und blicke hinaus in den Garten hinter dem Haus und auf die jenseits liegenden Felder. Alles ist schneebedeckt, weich und sanft in der Erscheinung… Nebel hat sich ringsum niedergesenkt, sodass die Sonne kaum durchdringt. Das Licht scheint verschleiert, gedämpft, doch mit einem stillen Glanz.Es schmerzt, direkt in die Sonne zu blicken, aber die Szenerie, in all ihren Facetten, ist zu verführerisch – der Schnee, der Nebel, das Licht. Ein kleiner Vogelschwarm hat sich im Geäst des kleinsten Baumes im Garten niedergelassen, an dessen Zweigen sich erstaunlicherweise noch immer Äpfel festklammern.

Die Vögel beginnen zu speisen und ich wundere mich, dass die Äpfel nicht zu kalt für sie sind. Sie teilen, sie zanken sich, sie verjagen sich gegenseitig von den begehrten Leckereien. Sie fliegen zwischendurch immer wieder auf den benachbarten kahlen Baum, wahrscheinlich um aufzustoßen und ein wenig zu verdauen, bevor sie zum Bankett zurückkehren. Sie picken picken am Boden unter dem Baum, graben sich durch den Schnee und versuchen wahrscheinlich an die Äpfel heranzukommen, die im Herbst vom Baum gefallen waren und derer wir uns nicht die Mühe machten, sie aufzulesen. Diese müssen mit Sicherheit gefroren sein, überlege ich, auch wenn jene, die noch hängen, es nicht sind. Aber… eine Mahlzeit, ist eine Mahlzeit, nehme ich an. Ich bin froh, dass unser Garten wenigstens eine Winternahrung bieten kann.

Plötzlich, wie aus dem selben Impuls heraus, oder durch eine Art telepathische Kommunikation, oder ein verbales Signal, das ich hinter meinem Fenster nicht hören kann - und selbst wenn ich es hörte, könnte ich es sicherlich nicht interpretieren - erheben sie sich gleichzeitig von Boden und Bäumen und fliegen innerhalb weniger Sekunden in einer klar zuvor geplanten Formation, zu der kleinen Gruppe nahegelegener Bäume. Was ist passiert? Wurden sie aufgescheucht? Haben sie meine Aufmerksamkeit gespürt, als lästig empfunden und an einem anderen Ort ihre Privatsphäre gesucht? Sie verschwinden so plötzlich, von einem Augenblick auf den andern und der Garten ist mit einem Schlag still. Ich bin mir sicher, dass sie nicht irgendwo anders hingeflogen sind, ich hätte sie gesehen. Tatsächlich, bin ich mir sicher, dass sie noch immer in den Tiefen der Baumgruppe gleich außerhalb des Gartens sitzen. Ich halte Ausschau, aber für den Moment sind sie vor meinem neugieren Blick verborgen.

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Garten zu, in dem es jetzt wieder still ist. Es fühlt sich idyllisch an und ich bin von Neuem gefesselt, von der alles einhüllenden Schneedecke. Es gibt fünf Obstbäume, die in einigem Abstand voneinander stehen und mir fällt auf, dass unter jedem Baum der Schnee etwas verfärbt ist. Interessanterweise sind diese Stellen deckungsgleich mit der Form des Baumes und spiegeln diese wider. Es kommt mir endlich, dass die unschöne Braunfärbung, die mir zuvor entging, von den Äpfeln herrührt, nach denen die Vögel so enthusiastisch gegraben hatten. Ihre Laufbahn in den höhen des Baumes beendet, sind diese herabgefallenen und unbewachten Äpfel in den Herbst und frühen Wintermonaten auf der Erde verfault und ihre offensichtlich köstlichen (die gierige Art, in der die Vögel sie verschlingen bestätigen diese Tatsache) geheimen Säfte, haben den nassen Schnee durchtränkt und signalisieren den hungrig passierenden Geschöpfen – hier ist etwas, das euren Appetit stillen wird. Sie würden sicherlich lachen über meine langsame Beobachtungsgabe, eine so wichtige Kleinigkeit zu erkennen. Sie würde den Winter nie überstehen können, würden sie sagen, und schon gar nicht alleine. Ich muss selbst grinsen. Mein erlerntes Wissen würde sich als vollkommen nutzlos erweisen. Ich bemerke einen Vogel, der auf den Boden hopst und aufs Neue gräbt. Einer nach dem anderen, kehren immer mehr zurück, aber noch nicht der ganze Schwarm. Es ist nun weniger voll, weniger Gedrängel im Garten und es ist ein viel entspannteres Knabbern und gesprächiges Schmausen.

Die ganze Zeit über, haben mich eine einzelne Fliege und ein einsamer Marienkäfer bei meiner Träumerei am Fenster begleitet. Die Fliege scheint nicht länger als zwei Sekunden am Stück fliegen zu können, was eher einem vergeblichen langen Luftsprung gleicht, denn etwas, das man als Fliegen bezeichnen könnte.
Der Marienkäfer krabbelt die ganze Zeit am Fensterbrett entlang, als würde er emsig nach etwas suchen. Wahrscheinlich nach einem Ausgang.
Ob der Marienkäfer bis zum Frühling überleben wird, weiß ich nicht, aber ich weiß sicher, die Fliege wird es nicht. Wenn ich sie hinaus werfe, wird die Kälte ihr Verderben sein. Wenn sie hier herinnen bleibt, macht der Hunger ihr ein Ende. Ich könnte sie füttern, aber ich werde keine Fliege füttern. Ich will kein Monster sein – Gottes Kreaturen und so weiter – aber meine Entscheidung steht fest. Der Marienkäfer scheint seine Suche beendet zu haben und hat einen gemütlichen Platz auf dem hölzernen Fensterrahmen gefunden … oder vielleicht ist es auch eine Sackgasse. Wie dem auch sei, ich werde auch ihn nicht füttern, aber ich werde ihn auch nicht stören. Die Fliege ist verschwunden und hat sich, wie ich anneheme, ihrem Schicksal hingegeben. Ich spüre einen absurden Stich… Gewissensbisse?

Meine Aufmerksamkeit richtet sich einmal mehr dem Garten zu, dem Schnee, dem Nebel, den Bäumen und den Vögeln. Viel mehr sind nun wieder zurück aber weniger gierig als zuvor. Es herrscht eher eine Art Kaffe-und-Kuchen-Atmosphäre – ein Knabbern hier, ein Zwitschern und Schnattern da, ein kurzer Flug zum Nachbarbaum und Rückkehr, um wieder weiter zu schlemmen. Der Nebel ist gestiegen und die Sonne ist vollends verschwunden, was den Tag grau und trostlos macht, typisch für die Zeit im Winter. Plötzlich fallen Schneebrocken von den Ästen eines Baumes in der angrenzenden Baumgruppe. Es geht kein Wind, also muss etwas in den Tiefen des Geästes näher beim Stamm Bewegung verursacht haben. Dann sehe ich es. Ein kleiner Vogel, ungefähr halb so groß wie diejenigen, die fressen, fliegt über den Apfelbaum und lässt sich auf einem der höchsten Äste im größten Baum der Baumgruppe nieder. Und da ist noch einer… Und noch einer... Haben sie auch Hunger? Möchten sie auch die gefrorenen Früchte genießen und sehen diesen besonderen Baum als eine glückliche Fügung, eine unerwartetete Delikatesse? Werden die größeren Vögel mit ihnen teilen? Werden sie es nicht tun? Sind alle Kreaturen so selbstsüchtig und eigennützig wie der Mensch? Wie die Antwort auch immer sein mag, die kleinen Vögel geben nicht auf, wenngleich sie auch noch in einigem Abstand bleiben. Sie bleiben aufmerksam, fliegen vor und zurück. Aber mir scheint, sie warten geduldig auf ihre Chance.

Da ich nichts über Vögel weiß, außer dass sie fliegen und verfaulte, gefrorene Äpfel essen, frage ich mich, was für diese typisch ist. Werden sie weiter in den Süden ziehen, was ich ihnen raten würde, oder werden sie den Winter über hier ausharren? In welchem Fall sie sich gerne an so vielen Äpfeln bedienen können, wie sie finden. Mir persönlich macht die Kälte nichts aus. Aber die dunklen, schattigen Tage der Winterjahreszeit sind wie Greifarme, die einem den Verstand aus dem Gehirn ziehen und davon huschen, während man sich auf dem Boden wälzt und um Sonnenlicht fleht, oder sich den Tod herbeiwünscht – oder wenigstens einen Komazustand, bis endlich wieder der Frühling kommt.

Aber ich schweife ab. Die Szene vor meinem Fenster ist wundervoll und zuweilen gar atemberaubend. Ich habe noch nie mit soviel Schönheit um mich herum gelebt. Die Bäume des Waldes hinter dem Feld auf der anderen Seite des Weges haben eine blau-schwarze Farbe mit Rändern und Schattierungen aus silberfarbenem Schnee und es hat den Anschein, als verbege sich direkt dahinter eine magische Welt. Ich sehe hinaus auf die Felder und die verstreuten Häuser und es ist ein Stillleben in Echtzeit. Ich sehe die Biegungen und Windungen der Bäume, ihre Äste, die sich strecken und beugen, als sei es das Bild eines Tanzes aus uralter Zeit. Auf dem entfernter gelegenen Hügel, hat sich der Nebel weiter gelüftet und ein Hauch von Blau mischt sich mit dem Grau, sodass die Konturen der Bäume verschwimmen und zu geisterartigen Elementen eines impressionistischen Gemäldes werden. Während der Dunst weiter aufsteigt, beginnnt ein Schleier von wogenden, weißschimmernden Wolken den Himmel zu füllen und die Bäume stehen wieder scharf abgegrenzt gegen das sich aufhellende Firmament. Es gibt so viel zu sehen im Verlauf der wenigen Minuten und Stunden eines kurzen Tages.

Es ist das Jahr 2019 und ich habe ( - nicht weitererzählen! - ) 65 Jahreswechsel kommen und gehen sehen. Ich habe mehr Vorsätze gefasst, als mir lieb ist, mich zu erinnern und mich an weniger gehalten, als mir lieb ist, einzugestehen. Die eifrigen Versprechen von wegen keine Schokolade, weniger Alkohol, mehr straffe Diäten und so weiter sind nicht der Stoff, aus dem erfolgreiche Vorsätze gemacht werden. Die erfordern eine andere Hingabe. Es sind jene Vorsätze, die meine Zeit und Arbeit beanspruchen, die meine Bereitschaft einfordern, ein tieferes Bewusstsein zu finden, die mich herausfordern, mich selbst zu sehen, mit all meiner Größe und all meinen Traumata, all meinem Trug und all meinen Wahrheiten. Und an dem allem zu arbeiten, Schritt für Schritt, ohne Vortäuschung – das sind meine besten Erfolge. Dieses Jahr also, fordere ich mich selbst dazu heraus, meine Augen zu öffnen … anzuhalten, zu schauen und zu sehen – den Schnee zu sehen und das Blau-Grau des dunstigen Himmels, den Marienkäfer und die tanzenden Bäume, den Vogelschwarm, der in seiner Familieneinheit zuversichtlich und sicher ist, und den kleinen Vogel, der wachsam und vorsichtig seinen Platz am Baum sucht. Zu sehen, was hier ist und was vorbeizieht. Zu sehen, wo ich bin und was um mich ist, in jedem Moment. Zu sehen, was auf dem Hügel und hinter dem Wald ist. Den sich lüftenden Nebel zu sehen und das Durscheinen der Sonne. Und wenn ich all das sehen kann, sehe ich vielleicht auch mich selbst.

Ein kleiner Vogel hat sich näher an den Apfelbaum herangewagt. Er sitzt auf dem Ast eines kleineren Baumes nur wenig entfernt. Die anderen müssen wissen, dass er da ist. Er schaut und er wartet. Plötzlich, schlägt er mit den Flügeln, löst sich vom Ast und taucht hinab zum Boden unter dem Apfelbaum. Ein weiterer kleiner Vogel, genau wie er, gesellt sich zu ihm und ich beobachte und warte… um zu sehen, was passieren wird. Die beiden kleinen Vögel beginnen am Boden zu picken und zu essen… die anderen scheuchen sie nicht davon. Nach ein paar Minuten trauen sie sich, auf einen der Äste hoch zu fliegen, an dem ein praller Apfel noch am Baum hängt. Die größeren Vögel essen weiter, unbewegt, unbekümmert. Ich bemerke, dass ich glücklich bin, dass es mich freut. Alles ist gut. Sie wurden beim Festessen akzeptiert. Sie wurden begrüßt. Und so, gleich ihren älteren Vettern, knabbern und schnattern sie, wechseln auf einen neuen Ast und knabbern und schnattern von Neuem. Immer und immer wieder. Es gibt genug für alle, um sich satt zu essen und zu genießen. Es gibt guten Willen und Freundschaft am Baum. Es gibt Harmonie im Garten… Und es ist wunderschön.

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Einer dieser Tage

11/28/2018

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Heute. Dieser Tag. Der heutige Tag. Heute. Oggi … Aujourd'hui … Hoy. Nur ein weiterer Tag. 24 Stunden. 1440 Minuten. 86400 Sekunden. Ein ganzer Kreislauf der Sonne, die aufgeht, über den Horizont wandert und auf der anderen Seite wieder abtaucht. Eine weitere durchgestrichene Nummer im Kalender. Heute. Ist einer dieser Tage … an dem ich mich fühle, als ob eine Fliege produktiver war als ich. Ehrlich, kein Scherz. Diese Fliege hat es tatsächlich geschafft, in der selben Zeit zu schlüpfen, ihre Kindheit zu durchleben, die Pubertät durchzumachen, sich fortzupflanzen, alt zu werden und zu sterben, in der ich es geschafft habe, mich zu entscheiden, was ich zu Abend essen will. Na schön, ich übertreibe ein wenig … so schlimm war es auch nicht … oder? Ich durchlaufe meine Schritte nochmals mental ... ich bin aufgestanden, habe gefrühstückt, mich angezogen, war voller Tatendrang … habe für zwei Sekunden den Faden verloren … und urplötzlich … haben meine Nachbarn im Haus gegenüber ihre Lichter schon wieder angeknipst, hat die Uhr sechs Stunden mühelos übersprungen und ich überhaupt nichts auf die Reihe gebracht!

Okay … kein Grund zur Panik … ich habe noch ein paar Stunden, bevor ich ins Bett gehen muss, um die acht Stunden Schlaf zu bekommen, die wie ich in einem Facebook Post von einem Professor für Neurologie und Psychologie gesehen habe, essenziell wichtig sind, weil die Hirnaktivität nach 16 Stunden anfängt, nachzulassen und nicht dazu in der Lage ist, neue Erinnerungen zu speichern, sodass man sich amnesisch vorkommt, da der Körper keine Chance hat, das toxische Protein Beta Amyloid, welches mit Alzheimer assoziiert wird, los zu werden und das Immunsystem beginnt, seine Tätigkeit einzustellen, wobei Anti-Krebs Kampfzellen und kardiovaskulärer Stressabbau reduziert werden … und ich habe wirklich keine Lust, mit 33 an einem Herz-Schlag-Demenz-Krebs-Infarkt-Anfall zu sterben. Aber ich habe auch wirklich keine Lust, meinen Kollegen morgen in der Arbeit zu erzählen, dass das Spannenste, was mir heute passiert ist das „2 für 1“-Hähnchenschenkel-Angebot zum Mittagessen war.

Nachrichten! Ich könnte Nachrichten schauen! Mich informieren … über die neuesten Geschehnisse in der Welt auf den neuesten Stand bringen … aber, wenn ich von den ganzen beschissenen Dingen, die sich überall ereignen höre, werde ich einfach nur wütend und traurig und fühle mich klein und unbedeutend und machtlos und ich habe gerade nicht die Zeit, mich selbst aufzurappeln und das System zu bekämpfen!

Ein Buch lesen! Keine wirkliche Option … Ich werde mich mit Sicherheit nur in der Geschichte verlieren und den Rest des Tages mit Lesen verbringen … und dadurch noch mehr Zeit verlieren.
Vielleicht brauchen wir etwas für den Haushalt? Ich könnte einkaufen gehen! Kinderleicht, einfach Schuhe und Jacke anziehen und mich dann entscheiden, wo ich für was hingehen soll … und dann haben die das womöglich nicht auf Lager … also muss ich zu einem anderen Laden gehen und ehe ich mich versehe, habe ich fünf Läden durchforstet und mir tonnenweise Krempel angehäuft, mit Außnahme dessen, wofür ich ursprünglich das Haus verlassen hatte. Dann kann ich mir die Mühe ebenso gut sparen und einfach online bestellen.
Aber ich versuche eigentlich gerade, die Online-Monopol-Körperschaft zu boykottieren … das System bekämpfen, jawohl!
Oh … da schau her … ich hab' gerade die letzte Stunde mit dem Versuch verbracht, mich für eine Tätigkeit zu entscheiden, mit der ich die wenige restliche Zeit verbringen könnte, die mir noch übrig bleibt.
Kreativ sein! Das ist es! Arbeiten! Ja! Ich setze mich an meinen Computer un beginne, zu schreiben:

Tagebuch einer Krähe,


Tag 1

Liebes Tagebuch,
bin heute drei mal im Kreis geflogen. Habe mich anschließend auf einen Ast gesetzt und Windstöße gezählt. Beim 43sten kam die Krähe vom Nachbarnest angeflogen und hat sich auf dem Ast unter mir niedergelassen. Gekräht hat sie dann. Drei Mal. Habe daraufhin zurück gekräht. Vier Mal. Haben dann geschwiegen. 26 Windstöße lang.

Tag 2

Liebes Tagebuch,
bin heute auf den Asphalt geflogen und habe an einer alten Brotscheibe geknabbert. Käsebrot … hat nicht geschmeckt. Habe trotzdem alle Krümel aufgepickt. Bin dann ein paar Stufen auf der Steintreppe hinabgesprungen. Eine nach der anderen. Bin davongeflogen, als ein Mensch näher kam.

Tag 3


Liebes Tagebuch,
habe mich heute mit einer Möwe unterhalten. Dann mit einem Eichhörnchen … und dann mit einem Stinktier.

Okay … diese Zeilen sind entweder unglaublich brilliant - oder der größte Schwachsinn, den ich je verfasst habe. Ich lösche meine Beschäftigung der letzten 45 Minuten.

Warum höre ich nicht einfach ein wenig Musik, nehme ein Bad, ruhe mich aus und tanke Energie, sodass ich morgen wacher und produktiver sein kann … Scheiße … das hab' ich gestern schon gemacht!

Ich gerate langsam in Panik. Es ist 7 Uhr und ich muss noch eine Aktivität finden, die mir den Tag rettet und mich nicht mit dem Gefühl zurücklässt, ein nutzloser Brocken menschlicher Existenz zu sein… eine Träumerin … die ihr Leben verträumt … war das nicht mal ein Lied von Ozzy Osbourne? Nein – stopp – fokusiert bleiben!

Ich fange an, das Abendessen vorzubereiten, schrubbe stattdessen schließlich das Spühlbecken im Bad, entscheide mich dann, die Wäsche zu sortieren, was bald beginnt mich zu langweilen, recherchiere also neue Jobangebote im Internet … und finde mich eine Stunde später vor einem unordentlichen Haufen von dreckiger Unterwäsche, Zahnbürsten, mariniertem Rind und ungekochten Broccolistücken wieder, welches mich bestimmt eine Stunde der Organisation kosten wird!
Ich nehme das Buch „Erfolgreiches Zeitmanagement für Dummies“ vom Regal … tausche es mit meinem „Im Hier und Jetzt bleiben“ Handbuch aus … vergesse, was ich gelesen habe, als mein Handy klingelt … checke meine WhatsApp Nachrichten … scrolle durch die neuen Profilbilder der Leute (weil ich mir geschworen habe, keine Zeit mehr damit zu verschwenden, hirnlos irgendwelche Posts auf Instagram durchzuscrawlen) und stelle fest, dass ich eine weitere Stunde verloren habe… noch immer vor vier unfertigen Aufgaben stehe und mit meinem Leben kein Stück glücklicher bin. Ich ziehe Weinen in Betracht, überlege es mir aber dann doch anders, da dieser Gefühlsausbruch bestimmt eine halbe Stunde andauern würde … EINE HALBE STUNDE MEINES LEBENS, DIE ICH NICHT HABE! … und entscheide mich stattdessen, für einen Spaziergang im Dunkeln. Mit frischer Luft kann man nichts falsch machen und Bewegung ist nie Zeitverschwendung. Die Welt sieht nach einem Spaziergang immer besser aus. Es ist, als ob die Luft nicht nur die Lungen reinigt, sondern auch den Raum im Kopf säubert. Dem Gehirn Platz zum Atmen gibt … um über das Leben, die Liebe, die Zukunft zu sinnieren … ist das nicht lustig? Wie sich alles immer um die Zukunft dreht? Wir trainieren daheim Ettikette, um uns im Kindergarten nicht zu blamieren. Wir gehen in den Kindergarten, um uns an die anderen Kinder in der Schule zu gewöhnen. Die Schule bereitet uns für die Uni vor. Die Uni auf die Arbeit. Wir arbeiten uns den Arsch ab, um gute Rente zu bekommen und verbringen die letzten Jahre unseres Lebens damit, uns von den Angstrengungen zu erholen, die die Jahre der Vorbereitung auf diesen Moment mit sich gebracht haben. Doch wie heißt es so schön: Man kann Pläne schmieden, aber am Schluss kommt es eh anders. Das einzige, was man mit Sicherheit weiß ist, dass man unweigerlich irgendwann sterben wird … also im Prinzip … von dem Tag an, da wir geboren werden … bereiten wir uns darauf vor, zu sterben. Ich versuche, mich nicht in einer pseudo-philosophischen Existenzkrise zu verlieren und richte meine Aufmerksamkeit auf die Ente, die gerade meinen Weg kreuzt. Verdammter Glückspilz! Keine Sorge auf der Welt. Keine Ziele, die sie erreichen muss, kein Drang, sich beweisen zu müssen. Und das Schlimmste dabei ist … sie weiß nicht mal, wie gut es sie hat!

Ich setze mich auf eine Bank, kurz davor, mich der Niederlage hin zu geben, dass heute einfach noch einer dieser Tage ist, als es beginnt zu regnen. Das nenne ich mal Pech. Ich erhebe mich wieder und laufe nach Hause.Ich ziehe mir die Jacke fester um den Körper und beschleunige meine Schritte, als die Tropfen schwerer und schwerer werden.

Ich hole einen Mann im Rollstuhl ein, der sich den Berg hinauf kämpft. Ich halte an, um ihm meine Hilfe anzubieten und schiebe ihn den restlichen Weg … na gut, wenigstens habe ich meine gute Tat für heute getan … verabschiede mich und renne nach Hause.
Als ich meine Wohnung betrete … die noch immer unfertigen Aufgaben, der leere Bildschirm auf dem Laptop und die spottenden Zeiger an der Uhr mir ins Gesicht starrend ... nehme ich mir einen Moment, um zu sein … einfach sein … und erinnere mich daran, dass nicht alles spektakulär sein muss … dass diese Verwirrung ein notwendiges Übel ist … dass diese Tage ein Lernprozess sind … und dass Zeit nur verschwendet ist, wenn ich mir sage, dass sie es ist.

Ich lasse das Rind, die Zahnbürsten und den Wäscheberg sein – war das nicht mal ein Lied von den Beatles? - schenke der Uhr einen überlegenen Zwinker … versuche, das Beste aus diesem Tag zu machen – und schreibe … das hier.

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Das „Gerade-Linien“-Syndrom - von Lib Briscoe

10/2/2018

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​Menschen sind umherschweifende Kreaturen. Das ist das Schöne an der menschlichen Spezies. Das, was uns unterscheidet, nicht von dem, was auf der Evolutionsskala „unter“ oder „hinter“ uns liegt, sondern von den zukünftigen Kreaturen, die wir selbst heute erschaffen und die, laut bestimmten kenntnisreichen Orakeln, uns eines Tages womöglich übertreffen, ersetzen und sogar versklaven werden. Künftig zwingt uns das rudimentäre Elektrogehirn der Pre-Roboter Köpfe dazu, „geraden Linien“ zum festgelegten Ziel zu folgen –  denn darin liegen Schnelligkeit, Zielkonzentration  und Entscheidungsklarheit. Und das ist gut, wird uns gesagt. Und wir glauben es. Dennoch ist das nicht, was und wie wir Menschen sind. Wir sind nuanciert und wir sind vielschichtig. Wir schlendern manchmal durch Landschaften, ohne ein bestimmtes Reiseziel im Sinn zu haben. Wir reflektieren, treffen Entscheidungen und ändern unsere Meinung im Verlauf der Dinge. Wir sammeln Dinge und Nutzlosigkeiten auf dem Weg, jeder nach seinem oder ihrem  Begehren. Wir lassen der Phantasie freien Lauf und wir spekulieren. Wir halten an, um an Blumen zu riechen und betrachten unser Spiegelbild in stillen Wassern. Schnelligkeit und Exaktheit sind nutzlos für uns ohne diese „ineffektiven Zeitvertreibe“.

Zugegeben, unser umherschweifender Charakter ist zugleich auch ein Fluch, der uns manchmal vom Weg abbringt und vergessen lässt, woran wir uns eigentlich erinnern sollten. Er treibt uns an,  unsere Umgebung aufgrund vager Erinnerungen und mit Blitzlicht-Wissen zu interpretieren und verleitet uns zu glauben, unsere kurzsichtigen Mutmaßungen seien universelle Wahrheiten. Aber … ist das Grund genug, der „geraden Linie“ zu folgen? Ich behaupte nein!

Wenn wir lernen, mit diesen digitalen Systemen in ihren (und unseren) Anfangsstadien umzugehen, sind wir begeistert von ihrer ungeheuren Ausdehnung und erstauen in Ehrfurcht darüber, wie nah die Welt plötzlich zu sein scheint. Es ist ein Space Mountain* voll glitzerner Info-Lichter, die aus einer ehemals unermesslich weiten Dunkelheit heraus aufblitzen. Auf dieser spannenden Achterbahnfahrt und mit dem ständigen Summen von Information und Input belagert ist die Versuchung groß, sich passiv mittreiben zu lassen und in Tatenlosigkeit zu verfallen…  und kaum wahrzunehmen. Aber sobald wir die Gefahr gewittert haben, ringen wir mit ihr um die Kontrolle. Ob wir erfolgreich sein werden, ob wir erfolgreich sein können, ob wir erfolgreich sein müssen - das steht nun zur Debatte. Wenn wir es von einer generationsbedingten Unterscheidung her betrachten (gestatten wir uns für einen Moment diese grobe Verallgemeinerung) – jene, die mit dieser sehr neuen und beeindruckenden Technologie aufwachsen sind und jene, welche die Welt ohne sie noch kannten – ist die Debatte vorhersehbar. Die Jüngeren finden sich in diesem Systemen mit größerer Leichtigkeit zurecht und nehmen jede Weiterentwicklung als natürliche Ordnung auf. Die Älteren müssen in einem Prozess der Anpassung daran arbeiten und fragen sich oft, warum der nächste Schritt überhaupt nötig ist. Die Jüngeren ermutigen die Älteren, zu sehen wie vorteilhaft jede Verbesserung für die Lebensqualität ist, während die Älteren die Jüngeren beschwören, wachsam zu bleiben dafür, was sie aufgeben. Wie gehen wir auf einander zu, wie antworten wir einander und wo müssen Grenzen gezogen werden?

Ich bin ein „Massen-Social-Media-Digital-Junkie“. Ich habe es nicht kommen sehen. Morgen, habe ich mir geschworen, werde ich es auf ein blankes Minimun herunterdrosseln. Eigentlich begann alles mit gut gemeinten, noblen Vorsätzen. Ich akzeptierte die neuen Wege und erkannte die vielen Vorteile. Ich wollte mich einerseits informieren, mehr über die aktuellen Gedankenströhme und Bewegungen in der Welt erfahren und verstehen. Ich lebe in einer fremden Kultur und konnte zwar die Zeitung lesen, Radio hören, den Fernseher anschalten und die Worte verstehen, aber der Prozess von Verständnis und Analyse war schmerzhaft langsam und der Alltag ließ dazu keine Zeit. Die digitale Welt bot mir die Möglichkeit, Nachrichten in meiner eigenen Muttersprache und dem mir bekanntem kulturellen Kontext zu sehen und zu hören. Der zweite Grund war, meine Heimat und die heutigen politischen und sozialen Gesinnungen wieder zu entdecken, zu erfahren, was sich verändert hatte und was so geblieben war, wie ich es gekannt hatte. Der dritte war mein größter Beweggrund: einfacher Zugang zu meiner Familie.

Doch irgendwann, schien die Information nie zu genügen. Ich brauchte nur noch einen Fakt mehr, noch ein Detail in der Geschichte, noch eine vertrauenswürdige Meinung zum Thema. Auf einmal, war es nicht mehr genug, nur über meinen Heimatort Bescheid zu wissen. Ich musste über den umliegenden Bereich lesen, die nahe gelegenen Städte und dann der nächste Bezirk, der nächste Staat und weiter und weiter weg, wie endlose Wellen auf einem uferlosen Ozean. Welches Bild hatte ich verpasst? Welche Feier? Welche Ankündigung? Welchen lustigen Kommentar im Bezug auf unsere Familie? Meine Ausschweifungen gingen nach links und rechts, bis sie überdehnt und steif wurden und ich wurde auf gerader Linie zu dem geführt, von dem der emotionslos rechnende  Server jeweils dachte, dass ich es wissen wollte und wissen musste. Und ich ließ es geschehen. Ich veränderte mich unmerklich, sammelte und speicherte Informationen, einzig und allein um der Information willen, fing nichts damit an und wurde selbst wie die gefräßige Maschine, die meine freie Zeit gefangen nahm. Sie hatte entschieden, wer ich war und leitete mich auf diesem schmalen Pfad, bis ich anfing, genau so zu werden. Ich war dabei zu vergessen, anzuhalten und mein Spiegelbild in stillen Wassern zu betrachten. Ich wußte nicht mehr, dass ich meine Meinung ändern und eine neue Richtung einschlagen konnte. Ich hörte auf, nach mir selbst zu suchen, Seiten, von denen ich wusste, dass sie irgendwo versteckt waren und solche, von denen ich noch gar nichts wusste. Ich hörte auf, die Dinge und Nutzlosigkeiten zu sammeln, die mich kantig, unberechenbar und nuanciert machen, die für niemanden Sinn und Bedeutung haben, als allein für mich. Ich hörte auf, mich ans Klavier zu setzen und meine Finger zu spüren, wie sie nach den Tasten suchen, um die wunderschöne Musik von Ravel, Debussy und Gershwin zu spielen. Ich hörte auf, regelmäßig zu schreiben, die wilden Geschichten zu erzählen, die sich in meinem Kopf, meiner Brust und meinem Bauch abspielten. Ich hörte auf, das Potential dessen zu spüren, was noch werden kann, solange ich noch atme.

Wir brauchen keine Rechtfertigung dafür, Raum für persönliches Wachstum zu verlangen. „Warum wir es wollen“, ist irrelevant. Es ist unser Geburtsrecht, das Vermächtnis, das wir mit unserer Zegung bekamen, das größte aller Geschenke, erhalten von welchem Schöpfer oder welchem Konzept auch immer, an den oder an das wir glauben mögen. 
Wenn wir weiterhin jede Aktualisierung, die daherkommt aktzeptieren, gedankenlos jegliche Entwicklung aufnehmen, ohne zu fragen: „Was passiert mit mir, wenn ich es benutze?“, werden wir in einem schlafwandlerischen Winterschlaf erstarren. Und die einzigen, die mit einer lebendigen Kreativität übrig bleiben, werden die sein, welche die fortschreitenden Stadien der Elektro-Gehirn-Entwicklung entwerfen und ein Heidengeld verdienen werden, bis sie selbst schließlich ihren eigenen Werken gegenüber minderwertig und damit hinfällig werden.

Als menschliche Spezies haben wir gerade erst begonnen, das Unentdeckte in unseren faszinierenden Körpern und unser tiefstes inneres Selbst zu erkunden und es gibt vermutlich noch viel, viel mehr zu entdecken. 
Das Elektro-Gehirn kann uns helfen, mit Sicherheit. Wenn wir ihm nicht all unsere Probleme überlassen, sie zu lösen, alle unsere Aufgaben zu erledigen und alle unsere Entcheidungen zu treffen. Wenn wir ihm nicht alle unsere Gedanken überlassen, sie zu verarbeiten, Rätsel zu lösen und Geheimnisse zu lüften. 
Wenn wir es aber zulassen, dass unsere Möglichkeiten zu seinen gemacht werden, unser Wissen in sein Gehirn gepumpt und unseres entleert wird, und wenn wir vergessen, dass wir geistbegabte Wesen sind, dann werden wir ihm dienen. 
Und das Elektro-Gehirn wird die Schönheit des Umherschweifens besitzen. Indess wir werden das beschränkte Leben der „Geradlinigkeit“ führen.

*  Anspielung an die Achterbahn „Space Mountain“ in Disneyworld .
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Grabrede - von Lennora Esi

8/22/2018

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Verehrte Anwesende … wir haben uns heute hier versammelt, um von unserem Vertrauten, Gefährten und Kameraden Abschied zu nehmen. Von einem Partner, der in allen Aspekten des Lebens zu uns hielt. Ein Verbündeter, der nicht nur in schlechten, sondern auch in den guten Zeiten für uns da war! Begleiter, Kumpel, Freund ... wir gaben ihm viele Namen. Die Zeit ist gekommen, „Lebewohl“ zu sagen und „tschüss“, „machs gut“ … nicht „auf Wiedersehen“, denn er soll nie mehr zurückkehren! Weint meine Freunde, weint! Denn diese Tränen sind lange überfällig. Lasst uns einen Moment lang  innehalten, sein Ableben zu würdigen. Möge er Frieden finden in seiner neuen Heimat und bleiben wo zur Hölle auch immer das sein mag! Wir alle kannten ihn. Manche gut, manche sehr gut, manche nur flüchtig. Aber wenn diese Tränen der Freude mir eine Sache aufzeigen … dann, dass er nicht vermisst werden wird! Ob eure Eltern euch mit ihm bekannt gemacht haben, oder ein Freund, ein Partner, oder ob ihr selbst zufällig auf ihn gestoßen seid in den unermesslichen Tiefen dieses defekten Apparates, den wir Gesellschaft nennen … tröstet euch, denn er ist fort.

Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung, als ob es gestern gewesen wäre! Ich war sieben Jahre alt. Ein, ohne mich selbst loben zu wollen, schlaues aber doch leicht schüchternes junges Mädchen. Ich liebte es, zu singen. Ich zwitscherte und trällerte fröhlich, wo immer ich war. Zu Hause, in der Schule, mit meinen Freunden, beim Spielplatz, vorm Schlafengehen. Kein Wunder also, dass meine Lehrerin in der zweiten Klasse, die Gelegenheit beim Schopf packte und mir das lange Solo in unserem ersten „Marionetten Grundschul Chor“ Konzert gab. Ich war völlig aus dem Häuschen! Ich übte tagein, tagaus. Der große Tag traf ein und ich war bereit! Oh, wie war ich bereit! Ich hatte mein violettes Kleid, meine pinkfarbenen Schuhe, meine weißen Spitzensocken an, eine Schleife im Haar und ein Mikrophon in der Hand. Ich bestieg die Bühne, blickte geradewegs ins Publikum … und da war er! Er saß da, leise, unaufällig, die Ruhe selbst und starrte mir direkt ins Gesicht, als ob er den ganzen Abend nur auf mich gewartet hätte. Mein Puls raste! Meine Hände zitterten! Meine Kehle schnürte sich zu! Und was das grandiose Debüt einer lebenslangen Karriere hätte werden sollen, wurde zur größten Katastrophe, die mein armes, kleines Herz zerschmetterte.

Von jenem Moment an, war er mein Schatten. Egal was, oder wo, oder wie, oder wer, oder wann, ich konnte immer darauf zählen, dass er da war! So anhänglich! Wie diese klebrigen Pflanzen, die am Wegesrand wachsen, die auf magische Weise den Weg zu deinen Kleidern finden und die man nicht abbekommt. Wie aus dem Nichts, schlich er sich an mich heran!

Wie dieses eine Mal, als ich mir eine neue Kleidersammlung kaufen wollte. Ich hatte genug von allem, was in meinem Kleiderschrank hing und beschloss, mir selbst etwas Gutes zu tun! In meinem Lieblingskleidergeschäft war Schlussverkauf und ich fand ein wunderschönes türkisfarbenes Kleid in meiner Größe! Ich rannte in die Umkleidekabine und … nicht zu fassen! Es passte! Es war billig, es war bequem, es sah gut aus! Das perfekte Schnäppchen!
„Bist du dir da ganz sicher?“ sagte die altbekannte Stimme hinter meinem Rücken. „Was zur … ?“ Ich hatte ihm befohlen, draußen zu warten … zumindest, bis ich den Laden verließ … wie war er überhaupt hier herein gekommen? „Ja!“,  antwortete ich und versuchte, mein falsches Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. „Mir gefällt's!“ Er gab mir diesen „Na gut, wenn du meinst ...“ -Blick, ließ seine Augen über die kleine Kabine wandern … in dieser wenn-du-meine-Meinung-nicht-hören-willst-schön Art und Weise. Ich versuchte ihn zu ignorieren. Aber seine Gegenward war nicht zu leugnen ... mir ins Ohr pfeifend … auf seinen Füßen vor und zurück wippend. „Na schön!“ Ich gab auf. „Was stimmt daran nicht?“ Oh, dieses fette Grinsen, dass ich so sehr hasste! „Also“, sagte er, „Erstens, ist es viel zu kurz! Willst du wirklich, dass die Leute deine schrammigen Knie sehen? Und du weißt, dass deine Knöchel in den neuen Schuhen fett aussehen! Wofür bräuchtest du überhaupt diesen Auschnitt? Diese Maulwurfshügel nennst du Brüste? Du wirst die größte Lachnummer im Dekolleté Kollektiv! Und die Farbe steht dir gar nicht.“ „Mir gefällt's“, murmelte ich. Er rümpfte die Nase. „Nein, nein! Du brauchst etwas Schlichteres. Wie schwarz. Schwarz ist gut!“

Verehrte Anwesende … was sollte ein Mädchen tun? Etwas, das war klar … aber was? Jedes Mal, wenn ich dachte, ich sei ihn los, kam er zurück, wie ein Bumerang … immer wiederkehrend, egal wie weit ich warf. Die Luft durschneidend, auf den Kopf, das Herz, den Bauch zielend.
Wenn ich mich für einen neuen Job bewarb: „Tu es nicht! Du bist nicht gut genug!“ Wenn ich Probleme in der momentanen Arbeit hatte: „Meine Rede, du bist nicht gut genug!“ Auf dem Weg zu Freunden: „Du weißt schon, dass du total langweilig bist, oder?“ Während ich mich für ein Date fertig machte: „Küss ihn besser nicht! Du wirst dich nur blamieren!“ Neuer Freund: „Er ist nur aus Mitleid mit dir zusammen!“ Nach einer Trennung: „Hab's dir ja gesagt!“ Nörgeln, nörgeln, nörgeln! Nicht wahr? Nicht wahr, alter Freund? Schlange in meinem Garten Eden! Nixe, versteckt in den Wellen meines Meeres. Mich zu Fall bringend, als ob ich zu nahe an der Sonne geflogen wäre, mich versteinernd wie eine Salzsäule. Egal wie gut ich mich vorbereitete, du würdest meinen wunden Punkt finden, deinen Bogen spannen und zu Grunde richten! Durch das Fegefeuer in die Tiefen der Unterwelt, wo ich den Rest meines Lebens in Selbstmitleid versumpfen sollte.

Selbstzweifel, … du warst ein verdammt hartnäckiger Gefährte! Ich konnte mich nie auf meine anderen Emotionen verlassen … Trauer kam und ging, Freude schaute ab und zu vorbei, Angst besuchte mich manchmal gemeinsam mit dir; und Wut … naja, sagen wir, wir sind entfernte Bekannte. Aber du … du warst immer für mich da. Es geschieht mit einem Hauch von Nostalgie, dass ich dich gehen lasse! Verstehe mich nicht falsch … ich konnte es kaum erwarten, dass du gehst! Menschen haben einige sehr beschissene Dinge getan - sind in die falsche Richtung abgedriftet, haben viel Unheil angerichtet, nur um dir das Gegenteil zu beweisen! Aber ich habe mich so sehr an dich gewöhnt, dass ich mir nicht vorstellen kann, was passieren wird, wenn du nicht mehr da bist, um mich zurück zu halten!
Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, was wohl gewesen wäre, wenn ich dich nie getroffen hätte! Ich wäre wahrscheinlich bereits eine erfolgreiche Sängerin … ich wäre der Hit des Sommers gewesen in dem Kleid! Ich hätte ein besseres Leben! Wir alle hätten ein besseres Leben, wenn Selbstzweifel nicht in unser Zuhause gekommen wäre und unsere Gedanken vergiftet hätte. Du hättest die Beförderung bekommen, er hätte seine Freundin behalten, sie hätten einen besseren Draht zu Familie und Freunden … aber verehrte Anwesende die gute Nachricht ist, … es ist nicht zu spät. Es ist vielleicht nicht die Beförderung, aber du kannst eine andere Leiter empor klettern! Es ist vielleicht nicht die Freundin, aber die Liebe wird ihn wieder finden! Und wahre Familienbande reißen nie und echte Freunde geben immer nicht nur eine, sondern ein Duzend letzte Chancen.

Meine Damen und Herren, verehrte Anwesende … lasst uns diesen Bastard begraben! Lasst uns frei sein von diesem falschen Monster, diesem Wolf im Schafspelz, der so tut, als sei er unser Freund! Den wir Begleiter, Kumpel und Freund genannt haben, nur weil er zufällig da war. Auf den wir jedes Mal, wenn wir Befriedigung spüren, zurückgreifen, weil wir es nicht aushalten, glücklich zu sein. Dessen Rat wir suchen, wenn wir zwar wirklich wollen, aber nicht wagen, selbst Entscheidungen zu fällen. Dem wir so viel Macht gegeben haben, weil irgendjemand, irgendwann einmal etwas gesagt hat, das uns verletzt hat.

Deine Haare sind nicht blond und tadellos glatt, na und? Womöglich gibt es Leute da draußen, die braune, buschige Locken lieben … und wenn nicht … zum Teufel mit ihnen! Du hast deine letzte Prüfung nicht geschafft, na und? Leute müssen sehen, dass Bildung mehr ist, als ein Stück Papier, das besagt, dass du A – Z auswendig lernen kannst und, dass es viele Arten von Intelligenz gibt … und wenn nicht … zum Teufel mit ihnen! Du trägst eine Brille, deine Zähne sind nicht gerade, du hast einen Akzent, deine Haut ist dunkel, deine Haut ist hell, deine Augen sind schmal, du magst Männer, du magst Frauen, du bist keine Größe 24, du bist kein Muskelprotz, du hast einen Penis aber willst ihn nicht, du hast Brüste, aber trägst die Haare kurz … wenn Leute nicht damit umgehen können, dass du anders bist, dann zum Teufel mit ihnen! Nicht mit dir! Und zum Teufel mit dir Selbstzweifel, dafür, dass du so viele wertvolle Menschen auf dem Gewissen hast, so viel Potential zerknirscht und so viel inneres Chaos kreiert hast!

Verehrte Anwesende … wir haben die Wahl. Wir hatten gestern die Wahl, haben heute die Wahl und werden morgen die Wahl haben! Er wird versuchen, von seinem Grab aufzuerstehen. Ignoriert ihn nicht! Unterdrückt ihn nicht! Lasst ihn einfach vorüberziehen, bis er genug hat von eurer Gleichgültigkeit und von selbst geht. Und wir werden gehen, ohne unseren Blick zu senken und wir werden sprechen, ohne unsere Stimme zu dämpfen und wir werden tanzen, als ob keiner zusieht und wir werden singen, als ob unser Leben davon abhinge und die vollkommenste Verkörperung sein von „Ich“ und „Selbst“, die es je gab.
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Der Sturm - von Lib Briscoe - Teil 2

7/30/2018

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Die Luft war stickig; stickig, heiß und durchsetzt mit schwarzem Staub. Man konnte ihn fast mit den Händen greifen. Er schmeckte ihn auf der Zunge und er spuckte ihn in zähen Klumpen auf den erdigen Boden. Er war ein junger Mann mit 33 Jahren; doch er fühlte sich nicht mehr jung, er fühlte sich ausgelaugt und verbraucht. Seine Haut war weiß, aber der Staub, der jeden Zentimeter seines Gesichtes, seiner Arme und seiner Brust bedeckte, gab seiner Haut eine eigentümlich gräuliche Färbung. Die Tunnel dagegen waren stockdunkel. Sobald man unten in der Mine war, ließ man das Tageslicht zurück und die einzige Lichtquelle war die Kerze, die man mitbrachte. Kauf sie dir selbst und vergiss sie bloß nicht. Er hasste die Dunkelheit, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Die Löcher, in denen sie arbeiteten und die abgestützt wurden durch hölzerne Balken, welche jederzeit zusammenzubrechen drohten, wenn jemand zu heftig gegen sie stieß, das war der Ort, wo sie die meisten ihrer Tage verbrachten und manchmal auch noch halbe Nächte, wenn sie ihr Soll nicht erreichten. Wenn er seine Vorstellungskraft nicht in Schach hielt, kam es ihm vor, als würden die Wände um ihn herum näher zusammenrücken mit jeder Stunde, die verstrich. Er nahm seine Spitzhacke, holte aus und trieb sie in die Wand. Er hoffte, dass sie nicht über ihm einstürzte – noch so eine Sorge. Vor zehn Monaten hatte er „die Mutter“* sprechen hören. Sie hatte gesagt, sie seien Feiglinge, wenn sie nicht für sich selbst eintreten würden. Sie hatte Recht, obwohl er sich nicht gefühlt hatte wie ein Feigling. Man konnte diesen Job nicht machen, wenn man seine Ängste nicht bezwang. Aber eine Sache machte ihm doch Angst – Hunger. Sie hatten nichts zu essen, wenn sie nicht im Laden der Company einkauften – sie hatten nur die nutzlose, mineneigene Währung. Und eine andere Arbeit hatte er nicht gelernt. Er hatte Angst davor, dass einer von ihnen krank würde und sie hätten nichts, wohin sie sich wenden konnten und er müsste zusehen, wie in der Familie einer nach dem anderen sterben würde. Aber er hatte ihr zugehört und sie hatte noch in einem anderen Punkt Recht gehabt. Jetzt ging es ihnen auch kaum besser – seine Frau hatte zwei Fehlgeburten gehabt wegen der Arbeit in diesen Minen. Sein ältester Sohn, gerade einmal dreizehn, hatte bereits drei Finger verloren. Und nun, seit sechs Monaten arbeitete auch sein Neunjähriger im Tunnel. „Wir brauchen die Kleinen“, hatte der Boss gesagt. „Die Nachfrage wird immer größer“, hatte er gesagt „und wenn wir sie nicht erfüllen, dann tut es jemand anderes.“ In den vergangenen achtzehn Monaten hatte es zwei Explosionen gegeben und einen bösen Einsturz. Dreißig Männer tot, zwei Frauen und acht Kinder. Nach der letzten Explosion hatten sie sich organisiert und waren in Streik getreten. Da hatten die Vorgesetzten die Miliz geholt und sie wurden so brutal zusammengeschlagen, dass sie tagelang nicht arbeiten konnten. Und dann kamen die Streikbrecher, die Schwarzen von weiter südlich. Irgendwo im Inneren wusste er, dass sie nicht schuldig waren. Sie besaßen auch nichts und hatten vermutlich die gleichen Versprechen zu hören bekommen wie er – gute, sichere Arbeit. Aber er hatte alles riskiert und nun sah er alles in Gefahr. Als sie kamen, hatte der Streik an Wirkung verloren. Deshalb richtete er seine Wut gegen sie. Sie hatten ihnen die Arbeitsplätze weggenommen und die Möglichkeit, die Minen sicherer zu machen. Dass sie aufhörten, Kinder zum Arbeiten zu zwingen und dass sie selbst einen Lohn mit Würde verdienen könnten – das war das Wort, das „Mutter“ gebraucht hatte. Und nun hatte sich nichts geändert. Und seine zwei jungen Söhne machten Sklavenarbeit in der Mine, genau wie er. Er sah hinüber, als die Kinder von der Oberfläche hinuntergelassen wurden und er beobachtete, wie sein jüngster Sohn durch den langen Schacht in der Ecke in den unten gelegenen schmalen Tunnel hinabgelassen wurde. Er wusste, dass der Junge Angst hatte und müde war. Er kam jeden Tag mit Prellungen nach Hause und es war nur eine Frage der Zeit, bis er einen Finger, einen Arm oder ein Bein verlor. Da entschied er, dass die Gewerkschaft wiederbelebt werden musste. Es war gefährlich, aber es war auch gefährlich, es nicht zu tun. Die Besitzer waren habgierig und herzlos, verdorben vom Hunger nach Reichtum, den sie all denen wegnahmen, die in den Minen arbeiteten. Seine Feinde waren nicht die rußverdreckten Männer und Frauen, die sich schunden wie er sich schund, um zu überleben, sondern die fein gekleideten Männer, die alles für sich nahmen. Er würde kämpfen, dieses Versprechen gab er sich. In dem Moment hörte er es, die Explosion, dumpf, sich ausbreitend. Kinderschreie folgten der widerhallenden Detonation, die den Boden unter ihnen erbeben ließ. Er versuchte, die Stimme seines Sohnes herauszuhören … aber es gelang ihm nicht. Der Schacht war verschwunden, aber die Schreie dauerten an. Nicht alle waren tot! Sein Herz pochte heftig bis an die Schläfen, als er und andere aus der ersten Schockstarre erwachten, nach vorne sprangen und begannen, mit bloßen Händen zu graben. Die Schreie hielten an. Es gab noch Hoffnung! Er grub verzweifelt, ignorierte seine blutenden Hände… und betete.

Jay war jetzt weit unten in der Straße, doch woher er das wusste, konnte er nicht sagen. Er atmete tief ein in dem Wissen, dass dieses „Phänomen“ bald aufhören würde, aber es war noch nicht vorbei. Jeder Teil seines Körpers fühlte sich verwundet an, als ob jene Blitze ihn tatsächlich überall durchbohrt hätten. Er folgte dem Pfad, der sich neben ihm auftat…

Sie tanzte. Die weiche wildlederne Kleidung bewegte sich sanft über ihrem Körper, während sie ihre Balance in Drehungen und Schritten von einem Bein auf das andere verlagerte, die Arme in zarten Gesten empfangend und schenkend und die kniehohen Lederschuhe geschmeidig im Kontakt mit dem Boden unter ihren Füßen. Ihre faltige Haut verströmte einen Geruch von Salbei und Zedernholz, ihr Kopfschmuck aus bunten Perlen und die Federn, die ihre langen Zöpfe umrankten, bezeugten die ernsthafte Natur ihres Rituals. Sie war kräftig und geschmeidig in ihren Bewegungen, trotz des hohen Alters. Obwohl sie alleine auf der Hocheben war, hatte sie keine Furcht. Ihre Totemtiere beschützten sie und ihre Tiergeschwister wussten, dass sie nichts Böses im Sinn hatte. Ihr zeremonielles Lied von alter Herkunft umfasste ihren gesamten Stimmumfang und sie sang es, bis ihr Bewusstsein das Tor ihrer Vorfahren erreichte. Sie begrüßten ihren Geist und im steinernen Kreis saß sie auf ihrer Fellmatte und hörte zu. Ihnen zueigen war eine Sprache aus Strömen und Wellen und nur im tiefen Traum konnte sie verstehen. „Ein Volk mit gebrochenem Geist wird kommen. Mit sich bringen sie große Veränderung und große Verwüstung. Sie haben das heilige Band mit der Erde vergessen und den Glauben an Verwandtschaft verloren. Sie werden euch nicht sehen und in ihrer Blindheit versuchen, euch, unsere Geschichte und unser Wissen auszulöschen. Was passieren wird, können wir nicht sagen, euch zu retten wird eure Stärke verlangen. Die Erde und ihre Kinder werden sehr krank sein. Erinnert euch… beschützt, aber hasst nicht. Verteidigt… aber richtet nicht Gemetzel an. Sprecht unsere Wege, lehrt sie, gebt sie allen weiter, die bereit sind, zu hören. Verbindet euch mit anderen Wegen, die dem gleichen Gedanken folgen. Bleibt der heilige Pfad!“ Die Vorfahren wurden leise, verfielen in Schweigen und zogen sich zurück. Sie sammelte ihre Sachen in einem Bündel, lud es auf ihren Rücken und sah zum Horizont. Der gewaltige Wald breitete sich unter ihr aus, schön und beständig und sie versuchte sich vorzustellen, wie dieses Land etwas anderes sein könnte, als das, was es in diesem Augenblick war. Obwohl sie wusste, dass es nicht in ihrer Lebenszeit geschehen würde, fürchtete sie sich doch um all ihre Kinder. Sie dankte den Vorfahren für ihre Weisheit und ihr Vertrauen, bat die Kleintiere um Vergebung, ihr zu Hause gestört zu haben und machte sich auf den Weg den Berg hinab zu ihrem Dorf.

Die Straße war nun fast still, einige wenige Lichter tanzten wie liegengelassene Feuerwerkskörper, noch immer unberechenbar, aber nicht bedrohlich. Er war sehr müde, doch es war ihm keine Ruhe vergönnt. Er musste ertragen, wie die in seinen Visionen ertragen mussten. Der offene Pfad befand sich zu seiner Linken. Er konnte weiter geradeaus laufen, die Straße war frei genug… aber er war es nicht. Noch nicht. Die Enscheidung lag jetzt bei ihm. Er wandte sich nach links.

Er sah in den Spiegel des Medizinschrankes. Er war ein Mann mit strähnigen Haaren, blutunterlaufenen Augen und hässlichen Stoppeln in seinem Gesicht. Er war nicht jung, aber er war auch nicht alt – nur ausgelaugt und verbraucht. Er war… sein Vater. Das kalte Wasser, mit dem er sich das Gesicht benetzte, ließ ihn aufstöhnen und ohne sich die Mühe zu machen, sich abzutrocknen, lief er den Flur entlang zu seinem Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett. Er hasste das hier – den Morgen danach. Seine Sicht war verschwommen, sein Hirn schwamm in seinem Kopf, sein Körper schwer wie tote Masse, sein Magen wie saure Milch. Und derzeit passierte es viel zu oft. Er stand langsam auf und wollte… etwas tun. Aber was? Ein Jahr war es jetzt, dass er keine Arbeit hatte. Er setzte sich zurück auf das Bett und ließ einen übel riechenden Rülpser aus seinem Mund. Eine ganze Weile versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was er tun sollte und Wassertropfen fielen auf seine Hände. Gott, ich wollte das nicht! Nichts davon wollte ich! Er war sauer gewesen wegen irgendetwas und hatte seinen Sohn aus dem Haus geworfen. Er hatte ihn geschlagen, er wusste nicht wie oft, und hatte ihn hinausgeworfen. Es hatte furchtbar gestürmt, aber er war zu betrunken gewesen, um es zu bemerken. Benommen wie er war, hatte er den Jungen vergessen und ihn draußen gelassen die ganze Nacht. Heute früh, als er es bemerkte, hatte er die Türe geöffnet und der Junge kam herein, durchnässt und zitternd, zog seinen Schlafanzug an und legte sich in sein Bett. Er stand wieder auf, jetzt wusste er, was er tun musste. Er lief in die Küche und blätterte im Telefonbuch. Jugendamt. Die Mutter des Jungen war seit zwei Monaten verschwunden. Sie würde nicht zurückkommen, das war klar. Er ist mein Sohn, aber ich kann mich nicht um ihn kümmern. Ich kann nichts für ihn tun. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. Die Frau am anderen Ende stellte ihm ein paar Fragen und sagte nach einem kurzen Gespräch, dass noch am gleichen Tag jemand kommen würde. Er weckte den Jungen und sagte, er solle sich anziehen und seine Sachen packen. Er würde gehen. Der Junge fragte die ganze Zeit warum? Wohin? Was war los? Er weinte und sagte ständig, es tue ihm Leid. Aber er beantwortete die Fragen des Jungen nicht. Er sah ihn nicht einmal an. Er schloss die Tür zum Zimmer seines Sohnes, ging in die Küche, setzte sich und wartete, dass jemand kam.

Jay war zurück in seinem Körper und sah zu, wie der Mann zu Boden fiel. Seine Arme hingen an seiner Seite, die Waffe locker in der Hand. Das Adrenalin und der Schwindel waren verflogen, ersetzt – jetzt war sein ganzes Sein niedergedrückt und schwer vor Trauer. Er verstand. Diese Leute, das war seine Vergangenheit, seine Geschichte, ein Teil von ihm und was ihn ausmachte. Sie lebten in seiner DNA – sie waren in sein Sein eingeschrieben und er war eine Konsequenz von ihnen und ihrer Erinnerung. Für ihn waren sie wiedererwacht und hatten ihm das Geschenk der Einsicht gegeben - der Rückschau und, was sicherlich ihr Interesse war: der Vorausschau. Das Mitgefühl, das aus seinem Gewissen ausgeschlossen gewesen war, blockiert und tief unterdrückt in ihm, war mit einem Mal zurückgekehrt. Die Erinnerungen, welche seine Vorfahren geteilt hatten, zwangen ihn, sich selbst zu sehen und zu fühlen. Jetzt konnte er mehr empfinden als Wut und Agression; tiefer als Genugtuung, anderen Schmerz zuzufügen, um seinen eigenen zu spüren. Was jetzt geschehen würde? Seine Vorgesetzten würden ihn festnehmen, vielleicht entlassen, wenn die Reaktionen entsprechend stark waren, vielleicht auch nur vom Dienst suspendieren. Doch schlussendlich, würde nichts geschehen. Das tat es nie. Er würde frei sein, sein Leben zu leben. Aber seine Illusionen von Macht und Überlegenheit waren zerbrochen. Er war benutzt worden und das würde nicht noch einmal geschehen. Er war darauf trainiert worden, sich auf seine schlechtesten Anteile zu konzentrieren, diejenigen, welche gebrochen waren. Er war vereinnahmt worden zum Vorteil von jemand anderem. Aber nun waren die Enttäuschung, die Angst und die Abschottung, welche ihn anfällig gemacht hatten für Kontrolle, in seinen eigenen Händen. Und er würde einen neuen Weg finden. Der junge Mann war tot – eine schmerzhafte, unumkehrbare Tatsache – und jedes verdammt einzelne Mal, wenn er nachts die Augen schloss, würde er ihn zu Boden stürzen sehen. Er wurde der lauten, wütenden Stimmen gewahr, die ihn anschrien, absolut bereit, ihn fertig zu machen. Ein anderer Polizist kam und nahm ihm die Waffe ab, klopfte ihm auf den Rücken und führte ihn zum Einsatzwagen. Als er seinen Kopf senkte, um einzusteigen, bat er seine Vorfahren um Mut.

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*Mary Harris „Mutter“ Jones
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    Die Autorinnen


    ​Lib Briscoe ist eine darstellende Künstlerin, Schriftstellerin, Lehrerin und Chorleiterin aus Philadelphia, USA. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lennora Esi ist eine darstellende Künstlerin und Schriftstellerin aus Ravensburg, Deutschland. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lektor: Manfred Bürkle

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