Der Wein ist geflossen, die Lachmuskeln sind erschöpft und die philosophischen Gespräche im vollen Gang. Eine Freundin macht nebenbei eine triviale Bemerkung, und plötzlich versinken alle schweigend in ihre Gläser, bis eine Person artikuliert, was sich alle denken: “Was zur Hölle mache ich mit meinem Leben?” Klingt irgendwie bekannt oder? “Marie gibt auf Snapchat ihr Jawort zur Promotion, Lukas geht auf Instagram weltweite Wagnisse ein, Sophia schenkt auf Facebook neues Leben - #meinlebenistbesseralsdeins – und ich sitze in Jogginghosen zu Hause, stopfe Selbstmitleids- Ben und Jerry's in mich hinein - #solonetflixunschillen – und scheine einfach nicht voranzukommen!”
Wir unterteilen unser Leben in zwei Hauptkategorien: privat und beruflich. Wenn es in der einen mal nicht so gut läuft, kann man immer auf die andere zurückgreifen. Dein Chef ist vielleicht ein Idiot, aber den Frust kannst du beim späteren Fußballspiel rausgrölen. Dein Freund hat dich vielleicht verlassen, aber dein perfekt sitzender Vortrag für die nächste Messe, macht die Selbstzweifel wieder wett. Aber was, wenn man sich dazu entscheidet, beides zu kombinieren? Wenn man sein Hobby zum Beruf macht? Eine der ersten Fragen, die wir stellen, um eine Person kennen zu lernen, ist: „Was machst du beruflich?“ „Ich bin Schauspielerin.“ Es gibt zwei universelle Reaktionen auf diese Aussage. Entweder: „Kann man davon denn leben?“ oder „Wow, dann sehe ich dich also bald in Hollywood?“ Wenn man dann mit “nein” antwortet wird man entweder mit Mitleid oder Enttäuschung begegnet. Das Problem mit Kunst als Beruf ist, dass es keinen klaren Werdegang gibt. Wenn man Soldat werden will, geht man zum Militär. Wenn man eine Ausbildung zur Tischlerin macht, wird man Handwerkerin. Man erwirbt ein Diplom in Tanz aber was dann? Vielleicht hat man nie einen Unikurs für Literatur besucht, findet aber den Weg zur Schriftstellerei. So stellt sich also die Frage... was ist Kunst überhaupt? Ein einsamer schwarzer Fleck auf einer 2 x 2 Meter großen Leinwand? Eine komplizierte Symphonie? Eine 500 Jahre alte Geschichte, die in modernem Kontext wieder aufgegriffen wird? Was ist die Definition eines wahren Künstlers? Ein roter Teppich? Leid und Schmerz? Berühmtheit erst dann zu erlangen, nachdem man unter der Erde liegt? Was bedeutet es, professionell zu sein? Pünktlichkeit? Geld verdienen? Echtheit und wahrhafte Authentizität in den Worten auf dem Papier, Bewegungen im Raum und Farben auf der Leinwand? Von Höhlenmalerei über rituelle Tänze hin zu theatralischen Geschichtenerzählungen. Die Kunst wurde mit uns geboren und ist zu einem Werkzeug mit dreifachem Zweck herangewachsen: die eigenen Emotionen auszudrücken, zu unterhalten und Wissen an andere zu vermitteln. Es gibt keine einfache Definition. Aber besessen von dem Drang, alles zu erklären, haben wir versucht, sie fest zu nageln. Daraus sind zwei gegensätzliche Vorstellungen entsprungen: Die des hungerleidenden Künsters und des erfolgreichen Stars. Irgendwann im Laufe der westlichen Gesellschaftsentwicklung hat Kunst sich verändert. Es geht immer weniger, um gemeinsames Erleben und mehr und mehr um Ansehen und Konkurrenz. Deswegen verbringen wir bei der Oskarverleihung die erste Stunde damit, zu entscheiden, wer für welches Kleid die passenden Brüste hat und hören in Castingshows Wanna-be Popstar Stimmen beim um die Wette schreien zu. Kunst reflektiert und spiegelt die Gesellschaft wider. Und unsere hat vergessen, dass Schönheit oft im Einfachen liegt. Alles muss heutzutage groß sein. Aber wenn man versucht, etwas größer erscheinen zu lassen, als es eigentlich ist, dann füllt man dieses Vakuum nur mit heißer Luft und hält am Schluss eine Blase leerer Kunst in den Händen. Aufgrund des mangelnden Inhaltes bleibt einem also fast nichts anderes übrig, als sich mit der Oberfläche zu beschäftigen. Ich sage nicht, dass jedes moderne Kunstwerk oberflächlich ist. Ganz und gar nicht! Aber es ist schon auffällig, wie in der Industrie die Gesichter und Körper bekannter Schauspieler in der Postproduktion “korrigiert” werden und wie viel Autotune man im Radio hört. Produzenten und Plattenfirmen treffen die Endentscheidungen und sie wollen (und müssen!) verkaufen. Also versucht man sich, auf die guten alten Zeiten zu konzentrieren, als Kunst noch Aussagekraft besaß. Leichter gesagt als getan, denn hier betritt man das Territorium des Bildungssnobismus. Wie, du erkennst keinen Unterschied zwischen einem Renoir und einem Monet? Was soll das heißen, du hörst nicht, ob es Bach oder Mozart ist? Und du kannst die 40 Autoren der Bibel nicht aufzählen? Du bist am falschen Platz, mein Freund! Na schön! Dann macht man eben einfach sein eigenes Ding! Ja gut, aber… was ist gerade an dir Besonderes? Was hebt dich von anderen ab? Warum sollte ich dein Projekt unterstützen, wenn doch niemand deinen Namen kennt? Hol dir ein paar Follower, werde Youtube Influencerin und dann reden wir weiter. Um in der heutigen Zeit zu überleben, reicht es nicht, einfach nur Künstler zu sein. Man ist auch Manager, Publizist und Marketing Stratege. Es reicht nicht aus, sein Fach zu beherrschen, man muss sich auch selbst vermarkten und verkaufen. Verdammt, dafür haben wir doch keine Kunsthochschule besucht! Wir wollen doch nur kreieren. Na gut, wir besorgen uns einen Job. Und zwar keinen ich-kellnere-nebenher-während-ich-auf-Auditions-gehe-armer-Künstler-Job! Eine feste 30-40-Stunden-die-Woche-Stelle. Und siehe da, mit einem Mal werden wir nicht mehr als Künstler, sondern als Buchhalter, Lehrer oder Elektriker angesehen, die in der Freizeit gerne malen oder Musik machen oder schauspielern. Aber das Schlimmste ist, dass wir es selbst anfangen zu glauben. Wir fangen an, zu glauben, dass wir unseren Traum aufgegeben haben. Obwohl wir eigentlich Wege suchen, ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Künstler sein ist eine Kunst für sich, weil man seinen eigenen, individuellen Weg finden muss. Wir verwechseln oftmals Professionalität mit Perfektion. Indem man aber versucht, alles perfekt zu machen, konzentriert man sich darauf, andere zufrieden zu stellen und langsam aber sicher verliert man das, was man eigentlich sagen wollte, aus den Augen. Wenn wir auf Perfektion warten, um etwas sein zu dürfen, werden wir nie etwas sein. Ich bin eine Musikerin, die keine Noten lesen kann. Ich bin eine Schauspielerin, die es hasst auf Auditions zu gehen (dazu später mehr). Ich bin eine Schriftstellerin, die nicht buchstabieren kann und eine Tänzerin, die ihr Bein kaum über 90 Grad heben und für ihr Leben keine Drehungen machen kann. Aber egal was ich mache, ich tue es mit Leidenschaft. Ich liebe es, Teil von etwas zu sein, mit anderen auf der Bühne zu stehen und die Energie mit dem Publikum zu teilen. Ich interessiere mich nicht für Preise und Ruhm. Ich will nur die Chance bekommen, zu sagen, was ich sagen möchte (auch wenn ich zu den Annehmlichkeiten des Reichtums sicherlich nicht nein sagen würde...). Wenn du Musikerin sein willst, dann sei Musikerin! Wenn du Maler sein willst, dann sei Maler! Und lass nicht die Quelle deiner Einkünfte den Wert deines Schaffens herabsetzen! Wir können zugleich glücklich sein und melancholisch. Wir können im Laufen Kaffee trinken. Wir können Mutter sein und gleichzeitig als Bänkerin arbeiten. Warum also nicht Florist sein und Tänzer? An diesem Fazit angelangt frage ich mich, ob ich das Ganze nur schreibe, um mich selbst davon zu überzeugen, dass der Weg, den ich gewählt habe, wähle und wählen werde, der richtige ist? Mag sein. Aber manchmal ist es gut, uns selbst daran zu erinnern, dass wir den Rat, den wir anderen geben, auch selbst annehmen dürfen. Schlussendlich sieht es doch so aus, meine lieben Künstlergefährtinnen und Gefährten und in „Was zur Hölle mache ich mit meinem Leben?“ gefangenen Freunde: Sie dir die Kinder, Reisen und Beförderungen an, freue dich für deine Liebsten und geh dann weiter deinen Weg. Denn höchst wahrscheinlich betrachten Marie, Lukas und Sophia jetzt im Moment dein Leben und sind genauso neidisch auf dich wie du auf sie. Lass die Leute dich bemitleiden und hinterfragen. Es sind ihre Gefühle, mit denen sie sich herumschlagen müssen, nicht deine! Lass niemanden dich drängen und dränge dich nicht selbst. Du musst nicht jeden Tag leben, als sei es dein letzter. Iss dein Eis, schau dir Folge um Folge der „Nanny“ an und entschuldige dich nicht dafür. Hab einfach Spaß dran. Mach alles in deinem eigenen Tempo, denn wenn du deinen eigenen Weg gehst, kannst du von niemandem überholt werden. Die einzige Person, mit der du dein ganzes Leben verbringst, vom Zeitpunkt, da du morgens deine Augen öffnest, bis du dich abends wieder schlafen legst, bist du selbst. Nur mit ihr bist du dein ganzes Leben lang verheiratet und nur an sie bist du ein Leben lang gebunden. Also genieße es, denn wenn du es nicht tust … wer dann?
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Künstler sind Menschen. Und wie alle anderen Menschen, haben auch wir unsere charakterlichen Mängel, Schwachstellen, lästigen Eigenarten und Momente von unüberlegter Blödheit. Auch wir können einem Tunnelblick verfallen und sind, genau wie unsere Mitmenschen, anfällig für engstirnige Überzeugungen, die unsere Werke in einseitige Haltungen einzwängen. Und manchmal wurde unsere Kreativität und unsere Arbeit wegen unserer Unachtsamkeit benutzt für Propaganda und ideologische Verklärung (der Propagandafilm der Nazis Triumph des Willens kommt einem dabei in den Sinn) oder um Stereotypen zu untermauern und Vorurteile zu schüren (Westerndramen wie Feuer am Horizont) oder falsche Vorstellungen und Lügen über vergangene, wie aktuelle Geschehnisse zu propagieren (man denke etwa an die glücklichen Sklaven in Vom Winde verweht). Das Leben kann fälschlich vereinfacht und wir von den Dingen, die unsere Aufmerksamkeit verdient hätten, abgelenkt werden (ich denke da an zahlreiche Fernsehprogramme, obwohl ich auch zugebe, dass ein vernünftiges Maß an Ablenkung durchaus wichtig ist für unsere geistige Gesundheit.)
Ja, Künstler sind auch nur Menschen. Und wie alle anderen Menschen, haben auch wir Ansichten, an denen wir festhalten und Richtwerte, von denen aus wir agieren. So stellen sich also die Fragen: Sollten wir nach Neutralität streben, um eben jene zuvor genannten Risiken zu umgehen? Ist das überhaupt möglich? Und wollen wir das? Nun, um es klar und deutlich zu sagen: Künstlerinnen und Künstler sind keine Journalisten, deren Verantwortung es ist, objektiv und sachlich zu sein. Wir sind nicht hier, um zu predigen und zu missionieren, wir sollten aber auch keine unparteiischen Zuschauer sein, die teilnahmslos die inneren Zusammenhänge und Mechanismen des Lebens analysieren. Die Idee persönlicher Distanzierung ist für uns unbrauchbar. Unsere Bereitschaft, persönlich und subjektiv zu sein, ist unsere größte Stärke. Unsere Bereitschaft, emotional und leidenschaftlich zu reagieren, ist der Faden, der uns mit unserem Umfeld verbindet. Und unsere Bereitschaft, den Ärger, die Furcht und den Hass unserer Mitmenschen nachzuempfinden, wie auch ihre Freude und Zufriedenheit, um uns dann auf das zu fokussieren, was darunter liegt, verleiht unserer Arbeit Tiefe und öffnet in uns, was nötig ist, um sowohl Psychopathen als auch Freigeister abzubilden, Reisende und jene, die gerne an ihrem Heimatort bleiben und alle, die sich in der bunten Mischung unserer Spezies dazwischen bewegen. Durch unsere Bereitschaft vermögen wir es, alle diese Personen, in ihrer universalen menschlichen Komplexität und Gleichheit anschaulich zu machen. Die Antwort ist also ein vorsichtiges „nein“ auf alle drei Fragen. „Der Künstler darf sich nicht fernhalten“ das waren die Worte von Paul Robeson, als er Spanien in den Kämpfen des Bürgerkrieges 1938 besuchte. Weiter sagte er: „...der Künstler steht vor einer Herausforderung und diese Herausforderung muss angenommen werden. Denn diese Kultur, das Vermächtnis unserer Vorfahren, ist das Fundament, auf welchem wir eine höhere und alles umfassende Kultur bauen.“ Diese idealistischen Worte rufen Künstlerinnen und Künstler auf, ihren oder seinen Zugang zu den Emotionen der Massen zu nutzen und die Möglichkeiten zu ergreifen, die ihr oder ihm zur Verfügung stehen, indem sie/er die Herzen der Menschen anrühren und gemeinsam mit ihnen die Vision einer besseren Welt teilen kann. All ihr Künstler! Erhebt euch mit dem Volk! Besteigt das Podest eurer Berufung. Legt Zeugnis ab und lärmt für alle, ob sie zuhören oder nicht. Als Paul Robeson 1949 in Schottland umgeben von Minenarbeitern sang „I dreamed I saw Joe Hill last night“, gab er ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Misere eine Stimme, die identisch mit der seinen war. Er fing in einem Lied die Notlage ganzer Generationen ein. Man kann es förmlich spüren - den Zusammenhalt, den sie verspürten und das Verständnis, das sie verband. Selbst durch eine Filmlinse hindurch, die seither 70 Jahre hat kommen und gehen sehen. Ein erleuchtender Moment. Die Gräuel der Lynchmorde, eingefangen in der trauervollen Betrachtung des Poeten Lewis Allen, Billy Holiday, die ihre Trauer in den Worten und der gefühlvollen Melodie von „Strange Fruit“ ausdrückte - die Bedeutung offenbarte sich allen, die es hörten. Die Bäume im Süden tragen verstörende Frucht Auf den Blättern und Wurzeln: überall Blut Schwarze Körper baumeln im Süden im Wind Verstörende Frucht tragen die Pappeln im Süden Ihr Schrei war das Flüstern ihrer Stimme. Ihr Podest war ein einzelner Scheinwerfer, der alles andere um sie herum ins Dunkel tauchte. Ihr Zeugnis war eingebettet in einen sorgfältig orchestrierten Augenblick, mit dem sie um ihrer Sicherheit Willen ihr Programm beendete und das Publikum zurückließ mit einer Anklage, nachlässig zu sein. Es war gefährlich, diese Wahrheit auszusprechen. Aber sie, als eine Künstlerin, die mutig und voller Integrität war, tat es und verschwieg sie nicht. "Sprecht über den Missbrauch der Sklaverei! Humbug! Die Sache selbst, ist der Kern allen Missbrauchs!" * Die Autorin und Abolitionistin Harriet Beecher Stowe konnte angesichts der Schrecken der amerikanischen Sklaverei nicht schweigen. Ich las „Onkel Toms Hütte“ zum ersten Mal vor knapp acht Jahren. Als Jugendliche in der Schule, boykottierte ich das Buch, gemeinsam mit vielen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, ohne es je aufgeschlagen zu haben. Damals war der Begriff „Uncle Tom“ eine der schlimmsten Beleidigungen in der schwarzen Gesellschaft und niemand wollte dieses heiße Eisen anrühren. Und wir fragten uns in unserer jugendlichen, rebellischen Art, was eine weiße Frau zum Thema Sklaverei schon zu sagen haben könnte - ein Thema, welches für uns ein so persönliches war. Aber in meinen reiferen Jahren beschloss ich, dass es an der Zeit war, dieses Werk zu lesen, das die folgenden Ereignisse stärker beeinflusste, als wir es damals erwartet hätten. Zu meiner eigenen Überraschung musste ich beim Lesen mehrere Male weinen. Aber wichtiger für mich als Künstlerin war, dass mir an einem bestimmten Punkt bewusst wurde: das Buch war nicht für mich oder die schwarze amerikanische Gemeinde bestimmt. Sie hatte das Buch für eine nichts wahrnehmende und uninformierte weiße Gesellschaft geschrieben, von denen viele womöglich ein gutes Herz besaßen, aber sich entweder absichtlich der Realität entzogen oder wirklich einfach nicht hinsahen. Es war ein Aufruf an Harietts Gemeinschaft, das Ausmaß des Bösen in einem System zu erkennen, welches allen schadete, die damit in Berührung kamen. Höre den Ruf und sieh durch meine Augen. Wie Hariette Stowe erschaffen alle Autoren Figuren, durch deren Augen wir sehen und durch deren Erlebnisse wir fühlen. Im Bereich von sozialer Gerechtigkeit und Wandel, werden wir durch die Figuren besonders hart mit der Realität konfrontiert, welche sie durch ausbeuterische Institutionen ertragen müssen. Charles Dickens gab uns Oliver Twist, um das Elend zu beleuchten, mit dem Armut Familien heimsucht, welches Leid für Kinder sie mit sich bringt und wie sie Menschen in Lebensweisen drängt, die sie unter anderen Umständen vermieden hätten. Er gab uns Ebenezer Scrooge als einen reichen Mann, herzlos und gefühlskalt, der sich in seiner Gier selbst im Recht sieht. Aber Dickens zeigt uns auch die Quelle, die seinem echten Schmerz zugrunde liegt und seinen Weg zur Erlösung. Victor Hugo gab uns Jean Valjean, dessen kriminelle Verstöße seinen bettelarmen Lebensumständen geschuldet waren und der trotz seines beispielhaften Lebens, keine Gnade erfährt vom Gesetz. Er gab uns Fantine, die von ihrer Umwelt drangsaliert wird, weil sie ein uneheliches Kind geboren hat – gefangen in einer moralistischen Gesellschaft, die geistige Güte verloren hat. In Harburg and Gorneys Lied „Brother, Can You Spare a Dime“, einem Leitmotiv für die Depression des 20sten Jahrhunderts, spricht ein Mann der Arbeiterklasse, der zum Bettler wurde, seine traurige Verwunderung darüber aus, dass das Land, für welches er so viel in seinem Leben geopfert hatte, ihn im Stich lässt. Hüter des Spiegels Wir halten der Welt den Spiegel vor und sagen ihr, dass sie hinsehen soll, um die Wahrheit zu erkennen. Dies ist eine gewaltige Verantwortung und wir alle müssen hart arbeiten, um ihr gerecht zu werden. Wie Journalisten müssen auch wir nachforschen und erkunden. Wie Prediger müssen auch wir den Geist der Teilnehmenden und der Veranstaltung im Blick haben. Wie Therapeuten müssen auch wir nach dem Herz suchen. Wie Einheimische müssen wir in Betracht ziehen, was die Gemeinschaft angeht. Und wie Reisende müssen wir die Universalität des lebendigen Geistes anerkennen. Unsere Arbeit sollte die Menschen nicht vom Denken befreien, sondern sie dazu veranlassen. Unser Schaffen sollte Kopf und Geist zu Fragen und Neugier anregen. Und hin und wieder können wir unsere eigenen Fragen Anstoß zum Austausch sein lassen. Habt ihr mitbekommen, was momentan passiert? Ist das die Welt, die wir haben wollen? Manchmal müssen wir das Wagnis eingehen und unseren Standpunkt vertreten. Und wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht und unsere Vorarbeit geleistet haben, werden wir vielleicht einen weiteren Schritt in Richtung von Paul Robesons Vorstellung einer „höheren und alles umfassenden Kultur“ tun. ------------------------------------ * Augustine St. Claire in Onkel Toms Hütte “Sie sind ein bisschen spät dran“
Soweit ich das am Telefon beurteilen kann, scheint sie nicht nur eine sehr offene und herzliche Person zu sein, sie ist auch erpicht darauf, so viel wie möglich, zu erfahren: wohin sie gehen solle, wie das alles so ablaufe und was bisher meine Erfahrungen in der freien Wildbahn gewesen seien... „Und wie war das so für dich? Ist staatlich wirklich besser als privat? Wie bereite ich mich für die Aufnahmeprüfung vor?“ Die Freundin des Bruders einer Schulfreundin überlegt sich, nach ihrem BWL Studium in Richtung Schauspiel zu gehen und ich gebe ihr selbstverständlich gerne Auskunft. Es macht richtig Spaß, mit ihr zu reden und ich merke, wie ich mich in die aufregende Zeit zurückversetzt fühle, in der ich selbst beschloss, die Kunst zum Beruf zu machen. Doch dann sagt sie etwas, das mich fast zur Weißglut treibt. Besser gesagt, es ist was sie sich hat anhören müssen : „Oh... Sie sind 23? Sie wissen schon, dass das ein bisschen alt ist, um mit dem Schauspiel anzufangen?“ Für jene unter euch, die sich damit nicht auskennen: es gibt in Deutschland zwei Arten von Schauspielschulen, staatliche und private. Staatliche Schulen sind zwar kostenfrei, allerdings nehmen sie pro Jahr im Schnitt nur acht Schüler aus einem Pool von 600 – 2500 Bewerbern auf. Viele behaupten, das sei ein Grund dafür, dass Absolventen einer staatlichen Schule besser seien (sie entscheiden sich von Anfang an nur für die talentierten Leute, während private Schulen aus Finanzierungsgründen jeden nehmen) - allerdings steckt auch sehr viel fragliche Politik dahinter. Eine der Regeln beispielsweise ist, dass die Altersgrenze für die Aufnahme in staatliche Schulen bei 24 liegt. Schauspiel ist bei Weitem nicht die einzige Kunstrichtung, in der das „Fördern unverbrauchter, junger Talente“ gepredigt wird. Habt ihr jemals versucht, mit einer Person zu diskutieren, die davon überzeugt ist, dass man „jung anfangen muss, um erfolgreich zu werden“? Also, wenn ihr mich fragt, ist diese Annahme auf mehreren Ebenen problematisch. Zum einen übt es einen enormen Druck auf unsere Jugend aus, sich in so vielen Bereichen wie möglich zu engagieren (bis sie völlig überfordert sind) und zum anderen suggertiert es das falsche Bild, dass mit 25 unser Leben gesetzt sei, dass es keine Alternativen mehr gäbe, und dass es ab diesem Zeitpunkt nur noch bergab ginge. Ich kann über andere Kulturen keine Urteile fällen und ja, bereits in der Vergangenheit wurde Älterwerden als etwas Negatives betrachtet (die Quelle der Jugend kommt mir dabei in den Sinn) aber unsere heutige, westliche Gesellschaft scheint von jugendlichem Auftreten und Aussehen so besessen zu sein, dass wir beim Anblick von Falten und kahlen Stellen regelrecht erstarren. (Zugegeben - ich selbst bin neulich auch fast in Tränen ausgebrochen, als ich glaubte, mein erstes graues Haar entdeckt zu haben). Natürlich bleibt auch die Kunst von diesen Vorstellungen nicht unberührt. Schlimmer noch: die Kunstwelt fördert dieses Denken. Botox und Schönheits-OPs in Hollywood, fotogeshopte Modells auf Plakaten, das Publikum mit Tricks und Effekten begeistern... ich könnte stundenlang weiter machen. Aber sollte die Kunst nicht eigentlich gängige Ansichten hinterfragen? Sind wir Kunstschaffenden nicht diejenigen, die das Unmögliche möglich machen und Wunder Wirklichkeit werden lassen sollen? Sollen wir nicht aufzeigen, dass es nicht nur einen, sondern viele Wege gibt? Ich habe im Lauf der Jahre so viele Menschen kennengelernt, die gerne tanzen wollen, aber jetzt niemals ihren Körper optimieren werden, singen wollen, aber jetzt niemals den nötigen Stimmumfang erreichen werden, spielen wollen, aber in diesem Alter keine Aufträge erhalten werden, Musik machen wollen aber mit dem jungen Kommilitonen, der seit seinem 14. Lebensjahr mit Musikprogrammen arbeitet, nicht konkurrieren können. Klingt alles nachvollziehbar, oder? Aber dann frage ich mich... wie es mein Schauspielkollege, der mit 40 eingestiegen ist und die Frau, von der ich las, die mit Ende 80 ihre Karriere startete, es geschafft haben? Wie konnte ich Tänzerin und Tanzlehrerin werden, obwohl ich erst mit 21 ernsthaft mit dem Tanzen angefangen habe? Wie konnte meine Mutter Sängerin, meine Freundin Malerin, mein ehemaliger Arbeitskollege Filmemacher werden? Sind wir Ausnahmen? Sind wir besonders talentiert? Oder haben wir einfach den Mut gefunden, zu sagen: Scheiß drauf! Ich machs trotzdem! Es geht um das, was man mitbringt Manchmal müssen wir diese Stimmen von außen und jene in unseren eigenen Köpfen ausblenden. Manchmal müssen wir ins kalte Wasser springen, unseren Wünschen und Träumen folgen und darauf vertrauen, dass.... egal was passiert... alles gut wird. Hey! Ich verstehe es vollkommen, das ist viel leichter gesagt, als getan, nicht wahr? Diese Einstellung ist toll, wenn man niemanden zu Hause hat, den man versorgen muss, keine Rechnungen zu bezahlen, oder für eine Rente zu sparen hat. Mit dem Alter und mit unseren Entscheidungen im Leben kommt Verantwortung und wir haben nicht alle das Privileg, auf „Anfang“ zu setzen und neu zu beginnen. Wie Arianna Huffington es deklarierte: Scheitern ist nicht das Gegenteil von Erfolg. Es ist Teil davon. Können wir uns Scheitern im Alter noch erlauben? Da sind sowohl finanzielle als auch persönliche Aspekte zu beachten. Können wir es uns wirklich gestatten, unser Geld, unsere Zeit und Energie in das Erlernen einer frei gewählten Kunstform zu investieren, von der wir nicht wissen, welchen Gewinn sie uns letztendlich einbringen wird? Ich sage: ja! Obwohl niemand von uns mit voller Sicherheit sagen kann, wo uns der Weg letztendlich hinführt, garantiere ich, dass diese Reise lohnenswert ist. Eine Kunstform zu erlernen bedeutet, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, die in dieser Form, die um uns herum und in uns drinnen existiert. Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie die Gesetze der Physik und Psychologie zusammenkommen, sodass ein Mensch eine Komposition erschaffen kann, die aus Farbe, Klang oder Bewegungen besteht. Wir lassen uns inspirieren von dem, was wir sehen. Wir gehen Themen aus einem anderen Blickwinkel an und setzen uns mit Fragen genauer auseinander. Und wir lernen in diesem Prozess so verdammt viel über uns selbst. Wisst ihr, was das Beste an der Kunst ist? Es geht nicht um Geschwindigkeit! Es geht nicht um Quantität! Es geht um das, was du mitbringst! Denkt nur, an all die Erfahrungen und Erlebnisse, aus denen man schöpfen kann, welche Geschichten man zu erzählen hat. Und wenn man sich zu einer Kunstform hingezogen fühlt, gibt es mit Sicherheit einen Grund, warum gerade diese Form es von einem verlangt, sich durch ihre Mittel auszudrücken. Ich weiß, was ihr denkt: Das klingt ja alles schön und fluffig und Hippie-mäßig und so, aber es ändert nichts an biologischen Tatsachen. Es ändert nichts an der Realität, dass man einfach schneller lernt, wenn man jünger ist, dass sich Knochen und Stimme noch entwickeln und man schlicht mehr Zeit hat, sein Handwerk zu erlernen. Ja, da liegts – um es in Hamlets Worten auszudrücken. Wir sind der seltsamen Überzeugung, dass wir uns erst dann vollwertige Künstler nennen dürfen, wenn wir unser Handwerk perfektioniert haben. Selbst wenn wir unsere Ausbildung abgeschlossen und viele Fortgeschrittenenkurse besucht haben, oder selbst wenn wir unser Ziel erreicht haben und an unserem Traumort auftreten oder unsere Kunst dort ausstellen durften... können wir jemals wahrhaftig von uns selbst behaupten, dass wir nun fertige Künstler sind und nichts mehr zu lernen brauchen? Nein? Warum also dann nicht auch im Umkehrschluss daran glauben, dass auch diejenigen, die gerade erst anfangen, etwas zu sagen haben? Kunst ist immer im Wandel und entwickelt sich stetig weiter. So wie man heute kreiert, wird man es morgen vielleicht schon nicht mehr tun. Wenn du dich also nicht mehr ohne Weiteres auf den Boden fallen lassen kannst... dann entscheide dich für eine andere Bewegung. Wenn du die hohen Töne nicht mehr erreichst... transponiere. Wenn dich niemand einstellt... kreiere selber. Wenn dein Musikerkollege sich besser auskennt mit den Software Programmen der Musik... egal! Eure Musik soll sowieso nicht genau gleich klingen! Um Whoopie Goldberg zu zitieren, die sich auf Rainer Maria Rilke berief: “If, when you wake up in the morning, you can think of nothing but writing… then you are a writer.” „Genauso alt, wie wenn Sie es nicht tun“ Ich glaube nicht, dass einfach jeder Künstler werden kann. Ich glaube nicht, dass Töne fabrizieren, gleich singen bedeutet und Körperteile zu bewegen Tanz ist. Ich glaube nicht, dass ich einen Klecks Farbe an eine Wand schmieren und mich dann einen Maler nennen kann. Vielleicht seid ihr da anderer Meinung und ich bin sehr gespannt, zu lesen warum. Ich persönlich sehe ein Kunstwerk, egal welcher Richtung, als ein Zusammenspiel aus Geschick, Talent und verdammt viel harter Arbeit. Ha, also doch! - mag der oder die eine oder andere nun denken. Es MUSS also bestimmte Kriterien geben, um sich Künstler taufen zu dürfen. Wenn nicht Alter und Dauer der Tätigkeit, was sind dann die maßgebenden Punkte? Wie misst man Geschick, Talent und Fleiß in der Kunst? Ich selbst nehme mir nicht heraus, das beantworten zu können. Aber genauso, wie ich nicht daran glaube, dass unsere Noten in der Schule ausschlaggebend dafür sind, ob wir später gute Ärzte werden, glaube ich nicht, dass die Bedeutsamkeit dessen, was wir zu sagen haben, an so etwas Oberflächlichem wie Gewicht, Herkunft, Geschlecht oder Alter festzumachen sind. Wenn man jung zur Kunst findet, ist das wunderbar! Ich selbst habe bereits früh auf verschiedenen Bühnen gestanden, weil es das war, was ich liebte. Aber meine Mutter ist eine darstellende Künstlerin. In unserer Familie waren Musik und Theater teil des Alltags. Wenn eine Familie ihrem Kind die Künste nicht nahe bringt, wie soll es dann wissen, ob sie ihm gefallen würden? Vielleicht warst du früher in deinem Leben nicht an dem Punkt, wo es möglich schien, eine Kunstrichtung zu verfolgen. Aber jetzt bist du an dem Punkt. Ob man eine alles umfassende Karriere daraus wird machen können, hat niemand von uns wirklich in der Hand. Und man wird immer auf Menschen treffen, die schon fest beschlossen haben, welches das korrekte Einstiegsalter ist. Aber wir müssen Menschen auch die Möglichkeit bieten, ihre Meinung zu ändern. Wenn sie nicht mit einer Alternative konfrontiert werden – wieso sollten sie ihre Position überdenken? Aber vor allem haben wir ein Recht darauf, mit unserem Leben glücklich zu sein. Und diese Zufriedenheit wird sich auch auf andere übertragen. Kunst gehört nicht den Jungen, Schönen und Nicht-Behinderten. Kunst gehört all jenen, die aktives Kreieren berührt. Und stell dir vor, was du alles kreieren kannst, wenn du es zulässt. Wer kann schon sagen, wie gut du sein wirst? Woher kannst du es wissen, wenn du es nicht versuchst? Und falls ich einige von euch noch immer nicht überzeugt habe... dann schafft es ja vielleicht Julia Cameron. Als die Autorin und Lehrerin gefragt wurde: „Wissen Sie eigentlich wie alt ich sein werde, wenn ich dann endlich gelernt habe, Klavier zu spielen/zu schauspielern/zu malen/ein anständiges Stück zu schreiben?“, antwortete sie: „Ja.... genauso alt, wie Sie sein werden, wenn Sie es nicht tun.“ ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ WEITERES ZUM THEMA: Julia Cameron - Der Weg des Künstlers Mit 19 Jahren beschloss ich, Tänzerin zu werden. Die Entscheidung brach aus mir heraus wie ein Sturzbach der Leidenschaft, ohne dass ich das Gefühl hätte beschreiben können oder sagen, woher es gekommen war. Auch heute noch erscheinen mir Worte unzulänglich. Auf einmal wusste ich, was Berufung bedeutet. Und ich beschloss, dem Ruf zu folgen. Es war aufregend, zwei bis drei Tanzstunden am Tag zu besuchen, in kleinen Theatern und Kunst-Kellern aufzutreten, die Größen der Modern Dance Szene auf der Bühne zu beobachten und an den Fortgeschrittenen-Kursen jener Ikonen teilzunehmen. Es war wundervoll, ich ließ mich mitnehmen auf eine Reise, bei der ich so vieles über mich selbst und über die Gaben lernte, die mir vom Meister der Schöpfung mitgegeben worden waren.
Zehn Jahre später – geschieden und alleinerziehend – stand ich da, ohne eine sichere Einkommensquelle, ohne vernünftige Krankenversorgung, weder für mich noch für mein Kind und ohne Erspartes. Bei all den Kosten, die damit verbunden waren, konnte ich mir keine Wohnung leisten und auch keine KITA, sodass ich hätte arbeiten können. Natürlich hat auch keine KITA der Welt geöffnet während der Arbeitszeiten von darstellenden Künstlern. Pleite und ohne eine Alternative zog ich wieder bei meinen Eltern ein. Man könnte nun fragen, ob ich überhaupt gut war. Die Wahrheit ist, dass es mir nie an Engagements fehlte. Von Beginn an, arbeitete ich ständig. Ich studierte und ich arbeitete. Und ich musste etwas an mir gehabt haben, denn bereits früh während meines Studiums wurde ich für Projekte angefragt. Ich liebte es und ich sage es noch einmal: Ich arbeitete wirklich hart. Wir alle taten das. Aber wir probten über viele Wochen hinweg, trafen uns viele Male die Woche und bekamen pro Aufführung 50$. Und wir konnten uns glücklich schätzen, wenn ein Projekt mehr als drei Mal aufgeführt wurde. Proben wurden so gut wie nie vergütet und wenn sie doch einmal bezahlt wurden, war es rein symbolisch. Einen den Lebensunterhalt abdeckenden Mindestlohn gab es nicht. Wir gaben Unterricht, um wenigstens ein bisschen so etwas wie regelmäßiges Einkommen zu haben, aber wir wurden pro Schüler bezahlt und nur für die Stunden, die wir tatsächlich unterrichteten. Keine Stunden, kein Geld, keine Kontinuität. Und da in freien Tanzschulen die Anzahl der Schüler ohnehin beständig schwankte, war auch das Gehalt im selben Maße unbeständig. Nein, ich mache nicht die freischaffenden Choreographen, Komponisten und Autoren dafür verantwortlich. Jene kreativen Köpfe, die selber mit ihren Finanzen zu kämpfen haben und auf andere Künstler angewiesen sind, um ihre Ideen zum Leben zu erwecken. Ich selbst habe beide Seiten dieser Medaille kennengelernt. Aber die Wahrheit ist, dass ich mehr in meine Arbeit hineingesteckt habe, als ich je rausbekam. Infolgedessen habe ich bereits als Kellnerin, Hostess und Model gearbeitet. Ich habe Datenbanken für Museen und Theater auf dem Computer erstellt (ja tatsächlich, damals als es noch ganz simpel war). Ich war Verkäuferin, Bankangestellte, habe Darlehen vergeben, Buchhaltung gemacht, auf Kinder aufgepasst und die Akten fauler Kredite sortiert… Sicherlich habe ich irgendetwas vergessen und - bin dankbar für die Gedächtnislücke! Heute bin ich Sängerin und habe noch immer kein Geld. Keines, das nennenswert wäre jedenfalls. Früher war mir diese Tatsache peinlich, jetzt, nicht mehr. Mir ist in den letzten Jahren bewusst geworden, dass meine finanzielle Situation eine direkte Konsequenz von gesellschaftlichen Konstrukten, von der Bewertung der Güter aller Art, sowie von Einkommenshierachien ist, die weit zurück reichen. Das Problem ist nicht, dass ich das falsche Berufsfeld gewählt habe. Ich schätze mich glücklich, diese Arbeit machen zu können und es freut mich, wenn meine Arbeit Herzen berührt. Das erfüllt wiederum mein Herz. Das Problem liegt in den Strukturen einer Gesellschaft, welche vor Jahrhunderten beschloss, dass Künstler abhängig sind von der Laune einer Bevölkerung (oder bestimmten Mitgliedern derselben), die vielleicht versteht, wer sie ist, was er sagt und aus welchem Blickwinkel sie die Welt betrachten – oder es eben auch nicht verstehen. Viele Künstler werden nicht anerkannt bis sie tot sind und jemand anderes viel Geld verdient an der Arbeit, mit welcher sie sich Tage und Nächte lang herumgequält haben. Aber wie sieht es aus mit der Vermögenslage in der Welt der Künstler? So zu tun, als ob das Künstlertum nicht elitär sei, so zu tun, als ob diese Welt gerecht sei und fair, das würde bedeuten: die Wahrheit zu verleugnen. Es gibt einige wenige von uns, die - ob durch Zufall oder aufgrund glücklicher Umstände - Unmengen an Geld verdienen, während die meisten anderen sich Sorgen machen müssen, ob wir nächsten Monat, oder nächstes Jahr unsere Rechnungen werden bezahlen können. Diejenigen Künstlerinnen und Künstler, die der elitären Klasse angehören, sind nicht die einzigen mit Talent und Leidenschaft und keinesfalls die einzigen, die gewillt sind, sie zu nutzen. Aber weil wir in der Illusion leben, die Welt sei eine Leistungsgesellschaft, werden die Verhältnisse nicht nur als zulässig angesehen, sondern auch als fair akzeptiert. Es gibt eine kleine Mittelschicht, die in etablierten Institutionen arbeitet – Universitäten, Konservatorien, mit öffentlichen Mitteln unterstützten Ensembles, wie städtische Orchester, Tanz- und Theaterkompanien und dergleichen. Aber ihre Existenz gleicht die enorme Kluft zwischen Arm und Reich in der Künstlerwelt nicht aus. Wir suchen nach Möglichkeiten, um in unserem Berufsfeld tätig zu bleiben. Aber die Spanne dessen, was den sich abmühenden Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung steht, reicht von unzulänglich bis lächerlich. Wir sollten nicht unterrichten müssen, wenn wir dafür keine Neigung verspüren und besonders, wenn wir dafür nicht ausgebildet sind. Pädagogik ist eine ganz eigene Berufung und sollte auch als solche respektiert werden. Wir sollten nicht in Wettkampfszenarien gesteckt werden, wo wir gegeneinander um Anerkennung ringen zur voyeuristischen Unterhaltung und für einen erbärmlichen Lohn, mit dem wir – vielleicht – ein weiteres Jahr lang überleben können. Wir werden nicht Künstler, um Wettkampfsport zu betreiben. Wir sollten nicht abhängig sein von einem Partner oder einer Partnerin mit einem auskömmlichen Verdienst, nur damit wir überhaupt die Möglichkeit haben, unsere Arbeit zu tun. Eine Liebesbeziehung sollte frei sein von solcher Belastung. In Gesprächen mit Künstlerkolleginnen und -kollegen wird immer wieder deutlich, dass unsere beste Arbeit viel zu oft eine ohne Vergütung ist. Aber, die sich lohnenden Engagements bestimmen, was wir tun und zu häufig bleibt unser Inneres dabei außen vor. Aus purer Notwendigkeit verfallen wir der Mittelmäßigkeit und Bedeutungslosigkeit und unser Geist wird ausgelaugt. Nur im Glücksfall kommen Bezahlung und Originalität zusammen. Jedoch auf Glück angewiesen zu sein als Daseinsform, das ist, gelinde gesagt, eine recht bedenkliche Angelegenheit. Wir brauchen einen existenzsichernden Lohn. Es war während der Kampagne zu den Wahlen des Präsidentschaftskandidaten 2020 in den USA, dass ich zum ersten Mal den Begriff vom Bedingungslosen Grundeinkommen (auf englisch UBI) hörte. Ich war sofort skeptisch. Der Blick in die Geschichte zeigte, dass frühe gemeinschaftlich orientierte Gesellschaftsformen das Konzept einer wechselseitigen Fürsorge schätzten, und dass das gegenwärtige Wohlfahrtssystem, wenn auch sehr unzureichend, eine Form dieses Konzeptes ist. Aber das hier war anders. Die Idee ging nicht von der Not (per se) aus, aber eher von der Grundüberzeugung, dass jeder Mensch ein unbestreitbares Recht auf Einkommen hat. Zugegeben, die Skepsis entsprang meinem Misstrauen gegenüber Machthabern in Politik und Wirtschaft, die in meinen Augen nicht gewillt sind, etwas abzugeben, außer, wenn sie es zu ihrem Vorteil manipulieren und Gewinn daraus schlagen können. Aber die Idee wollte nicht mehr aus meinem Kopf. Abgesehen von Manipulation könnte das Bedingungslose Grundeinkommen die Antwort, oder zumindest Teilantwort auf die finanzielle Misere der Kunstschaffenden sein. Wer von uns würde sie nicht kennen, die Diskussionen mit Eltern, Partnern, Freunden, Lehrern etc., die - fairerweise gesagt - im Allgemeinen nur unser Bestes wollen, die Debatten über die unvermeidlichen Geldsorgen, die einhergehen mit der Entscheidung, Kunst zum Beruf zu machen: „Sei vernünftig! Glaubst du wirklich, dass du eine der wenigen sein wirst, die es schaffen? Viele talentierte Menschen werden übersehen.“ - Völlig richtig und: völlig ungeheuerlich! Sicherlich, ich sehe die Schwierigkeit, wenn dieses neue System eingeführt werden sollte. Wie definiert und identifiziert man einen Künstler? Nach welchen Kriterien wird ermittelt, ob jemand den Titel eines Künstlers verdient hat? An welchem Punkt seiner oder ihrer Entwicklung? Und wer entscheidet darüber, wer diesen Kriterien entspricht? Das alles sind Fragen, die gestellt werden müssen. Mehr noch, gibt es eine Mindestgrenze für Veröffentlichungen der eigenen Kunst? Innerhalb welcher Zeitspanne? Welche Rolle spielen Popularität und Beliebtheit? Sollten sie überhaupt eine Rolle spielen? In der Tat: Kann Authentizität von Kunst überhaupt mit Begriffen der Bürokratie gefasst werden? In Wirklichkeit: Nein! In meinem Studium definierten wir Kunst als ein Cluster - eine Sphäre, die die Elemente Intention, Können, Authentizität, Originalität und Klarheit der Stimmungslage und Spiritualität als Grundrezept beinhaltet, von jedem einzelnen Künstler in Entfaltung seiner individuellen Kreativität ausgelotet, bemessen und zusammengestellt. Die authentische Stimme eines Künstlers, einer Künstlerin, egal welcher Form von Kunst sie sich bedienen – Worte, Farben, Klang, Bewegung und Kinesik; und alle daraus resultierenden Mischformen – lebt im menschlichen Bewusstsein. Sie kann öffentliche Meinungen und das Denken verändern. Wenn sie von einer echten und ehrlichen Überzeugung herrührt, kann diese Stimme motivieren und inspirieren. Sie kann aus Teilnahmlosigkeit Eifer machen und ein Zögern in Taten verwandeln. Ihr Geschäft ist Erhellung und Reflexion. Der Gesellschaft, aus der sie erwächst, den Spiegel vorhalten. Die verborgenen, missachteten Details unter die Lupe nehmen. „So ist es!“ in Frage stellen und „Was ist, wenn?“ abwägen. Dies sind immaterielle Werte. Und sie müssen es bleiben. Zu versuchen, sie in messbare Formen zu bringen, das schadet nicht nur der Kunst, sondern auch all jenen potentiellen Künstlern, deren kreativer Instinkt erst gerade erwacht. Deshalb: Bedingungsloses Grundeinkommen! Nichts von alledem kann man tun, wenn man Hunger leidet, oder Angst hat, irgendwann aus der Wohnung geworfen zu werden, oder schlicht: sich mit der Person, die man liebt, über Geld streitet. Auch wenn künstlerische Konzepte nicht in bürokratische Formen passen: unsere Bedürfnisse sind so konkret wie die aller anderen. Doch dies ist keine Arbeit für Bänker, Schatzmeister, Unternehmensmogule, Businessleute, Administratoren oder Politiker. Wir, die das Nichtgreifbare zu fassen suchen, müssen diese Aufgabe anpacken. Wir, die verstehen, dass Kreativität Raum und Vertrauen und Besinnung und Freiheit braucht, müssen unsere Gemeinschaft bestimmen. Und vielleicht werden wir aufmerksam genug sein, keine Komitees zu bilden, die neue Eliten schaffen, aber stattdessen unsere Tore öffnen für jene kreativen Reisenden, die sagen: „Ich bin ein Künstler.“ Und es wird ausreichen, zu sagen: „Dann geselle dich zu uns.“ Und wir werden leben und zufrieden arbeiten in gegenseitiger Aufsicht und Obhut. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ WEITERES ZUM THEMA: Rutger Bregman - Utopien für Realisten |
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