Minas Mutter platzte erregt durch die Küchentüre: „Seid nicht so laut! Was ist bloß los mit euch? Jetzt ist weder die Zeit noch der Ort für so etwas … ! Mina schaute ihre Mutter an. „Wir werden leise sein, Mrs. Norelo“, sagte Jarrod beschwichtigend.
Sie bedankte sich mit einem kurzen Nicken und verließ den Raum. Die fünf Freunde, Mina und Jarrod, Bella, Piolo und Tim saßen stumm um den Tisch und warteten eine Weile bis sich die Erregung etwas legte. Sie hatten einen heftigen Streit gehabt und er war noch nicht vorbei. Jarrod, der schon immer der Impulsivste und Gesprächigste von allen war, ergriff zuerst das Wort: „Deine Mutter hat nicht Recht, Mina. Jetzt ist genau die richtige Zeit und dies ist genau der richtige Ort. Wenn wir nicht jetzt etwas unternehmen, solange wir noch eine gewisse Unabhängigkeit haben, dann ist es vielleicht zu spät! Es wird zu spät sein, und ihr alle wisst es.“ „Nein, wir wissen es nicht!“, platzte Bella dazwischen, „das Komitee versucht immer noch einen Kompromiss auszuhandeln …“ „Ach komm, Bella! Diese Leute erkennen unsere Konföderation doch noch nicht einmal als souveräne Gemeinschaften an.“ Piolo war drauf und dran, wieder laut zu werden. „Die sind nicht hier, um einen Kompromiss auszuhandeln. Ihr einziges Ziel ist es, uns wegzunehmen, was sie wollen … und uns dabei umzubringen, wenn wir nicht mitmachen.“ „Piolo, bitte“, sagte Mina leise und blickte zur Türe hin. Er hob entschuldigend die Hände hoch. „Wir müssen sie jetzt aufhalten“, Jarrods ruhige Stimme hatte einen feurigen Unterton, „Mayla hat das eindeutig gezeigt.“ Plötzlich verstummten alle. Mina stand auf, ging zur Tür, die zum Wohnzimmer führte, öffnete sie ein wenig und sah hindurch zu den Trauernden. Obwohl sie sehr gerne dort drin gewesen wäre bei ihrer Mutter und bei Maylas Mutter, wusste sie doch, dass ihr Platz hier war. Jarrod und Piolo hatten Recht. Es mussten jetzt Entscheidungen gefällt werden, oder die letzte Entscheidung, die um ihr Überleben, würde nicht mehr in ihren Händen liegen. Manchmal ändern sich die Dinge in einem einzigen Augenblick. Vor einem Jahr noch saß Mina zufrieden in ihrem Zimmer und wob ihre Stoffe. Das war die Arbeit, die sie am meisten liebte – eine meditative, einsame, ruhige und kreative Arbeit. Ihr Leben war einfach und ohne Eile, idyllisch in vielerlei Hinsicht. Nach der weltweiten Dürrekatastrophe vor 100 Jahren waren viele, die überlebt hatten, entschlossen, die Fehler der Gier aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen und wandten sich ab von den „technischen Errungenschaften“ der vorausgehenden Jahrhunderte. Sie hatten gelernt, mit weniger zu leben und glücklich zu sein, sie hatten gelernt, das Leben einfacher zu gestalten und sie hatten gelernt, zu teilen. Sobald sie eine Vorstellung von dem entwickeln konnten, was über ihre eigenen Bedürfnisse hinausging, wurde den Kindern beigebracht, Geschichte zu lernen und aus der Geschichte zu lernen. Es hatte Warnungen gegeben vor der großen Wasserkatastrophe – überall konnte man Weltuntergangszenarien finden, in den Büchern, in den Filmen, überall in den Medienarchiven aus jener Zeit. Aber die Veränderungen im menschlichen Verhalten waren nicht rechtzeitig gewesen und der Weltuntergang kam und verging. Wasser war so gut wie verschwunden, und was man noch fand, das war verschmutzt. Milliarden von Menschen starben. Minas Vorfahren kamen in den Norden, hierher, wo die Gemeinwesen der Konföderation um noch unberührte unterirdische Quellen am Fuß der Berge herum errichtet wurden. Und in diesem Tal bauten sie mit ihren Träumen wieder etwas Neues auf. Wasser wurde von Anfang an zum freien Gut erklärt und es war eingewoben in das Gewebe ihrer Überzeugung und ihrer Lebensart, dass jeder Mensch das Recht auf sauberes Wasser hatte und dass jeder Einzelne eine moralische Verpflichtung hatte, die Rechte der anderen an diesem Wasser zu respektieren. Für sie ging diese Freiheit Hand in Hand mit der unantastbaren Freiheit eines jeden Einzelnen. Bekanntmachung Aufgrund der Vertretung und Verbreitung von untauglichen sozialen und politischen Systemen und der Förderung von primitiven Systemen der Ökonomie und der Bildung, sowie aufgrund ihres vernachlässigenden Umgangs mit Entwicklungsmöglichkeiten wird die gegenwärtige Leitung der Konföderation hiermit ihres Amtes enthoben. Das Komitee ist durch Volksvertreter zu ersetzen, die durch dieses Gericht zu bestätigen sind. Der Beschluss tritt unmittelbar in Kraft. Jede Zuwiderhandlung wird gesetzlich verfolgt. Mina und ihre Freunde hatten sich geweigert, sich dieser „neuen Regierung“ mit ihren neuen Regeln und ihrer unterdrückerischen Mentalität zu unterwerfen. Die „Kollektive Republik“ hatte rasch gehandelt und hatte praktisch sofort Rohrleitungssysteme gebaut, um das Wasser in ihre eigenen Gebiete abzutransportieren. Sie hatten die freien Wasserwege umgeleitet und jeden freien Zugang zu den Quellen und Brunnen blockiert, um dann eine Gebühr zu erheben für jeden Liter Wasser, der verbraucht wurde. – Alles entgegen der Gesetze der Konföderation und alles entgegen der anerkannten Naturgesetze im Tal. Sie nannten es Fortschritt. Aber … die Bauunternehmer hatten in der Eile Konstruktionsfehler gemacht, irgendwie gelangte Abwasser in das, was von der Trinkwasserversorgung des Tales noch geblieben war und das Wasser war langsam verunreinigt worden. Jetzt gab es nicht wenige Fälle von Ruhr und es gab nichts was dagegen getan wurde. Die Volksvertreter lehnten die Verantwortung ab und beschuldigten bestimmte „aufrührerische Elemente“. Mina und andere machten zwar wiederholt geheime Überfälle, um die Brunnen und die neu gebauten Dämme zu befreien. Es wussten aber alle, was die wirkliche Wahrheit war. Und nun waren etliche Leute gestorben, vor allem ältere Leute und kleine Kinder wie die fünfjährige Mayla. Mina hatte die kleine Mayla geliebt, ihre Nachbarin und ihre Freundin - mit ihren erst fünf Jahren. Oftmals, wenn sie an ihrem Webstuhl arbeitete, war Mayla auf dem Stuhl am Fenster gesessen. Manchmal hatte Mayla mehr Fragen an Mina als es Antworten in der ganzen Welt geben konnte. Manchmal erzählte Mayla über Käfer und Schmetterlinge, oder über ihre Freunde und ihre „Nicht-Freunde“ in der Spielgruppe. Manchmal war Mayla lange Zeit nur da gesessen und hatte ihr zugesehen beim Weben und manchmal war sie neben ihr am Boden gesessen und hatte gespielt. Hin und wieder ließ Mina sie auf ihrem Schoß sitzen und sie arbeiteten zusammen am Webstuhl. Ihre Arme waren noch nicht lang genug, sie war klein, selbst für ihr Alter, und nicht sehr stark. Mayla war nicht kränklich, aber sie war empfindlich; und diese Empfindlichkeit hatte sie anfällig gemacht. Ihr Tod brach Mina das Herz und sie spürte, wie eine Hemmschwelle in ihr zerbrochen wurde, von der sie nicht einmal wusste, dass es sie gab. „Wenn wir einmal anfangen, gibt es kein Zurück.“ Tim meldete sich zum ersten Mal zu Wort. „ Wir wissen nicht, was es für Konsequenzen haben wird, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Familien“, fiel Bella ihm ins Wort, „und, sind wir wirklich bereit, das auszuhalten, was ihr Schicksal sein wird … erst uns zu verlieren, dann Schikanierungen, vielleicht Misshandlungen, Gefangennahmen und vielleicht Schlimmeres. Lasst uns realistisch bleiben und nicht irgendwelchen heldenhaften Ideen aufsitzen.“ „Was ist denn realistisch, Bella?“ Piolo stand auf und ging zum Fenster. Ihre Worte gingen ihm zu Herzen, aber das hier war etwas anderes. „Die Realität ist, dass wir sterben. Die Realität ist, dass wir nicht mehr so leben können wie wir es für richtig halten. Die Realität ist, dass sie erst mit einer totalen Unterwerfung zufrieden sein werden und erst, wenn unsere Welt in der ihren aufgeht. Die Realität dieses Überlebens ist Unterwerfung, nichts anderes. Kannst du diese Realität aushalten, ohne zu kämpfen?“ Bella war still, ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Tim gab bedächtig wie üblich zu bedenken: „Was ist mit uns? Was wird aus uns, wenn wir ihre Methoden übernehmen, selbst wenn es dabei um unser eigenes Überleben geht? So hätten sich unsere Vorväter unsere Reaktion nicht vorgestellt. Selbst falls wir gewinnen, werden wir dann - gewinnen … ?“ „Wir werden unser Leben zurückgewinnen!“ Mina war sich plötzlich sicher und blickte Jarrod an und er wusste, dass ihre Entscheidung gefallen war. „Nichts zu tun, ist sich selbst zu zerstören; und das kann nicht die Antwort sein, die sie sich vorgestellt hätten.“ Mina kam von der Tür zurück zum Küchentisch. „Etwas wird bewahrt bleiben, ob wir leben oder sterben, wenn wir uns klar darüber sind, wofür wir kämpfen. Und ich will jedenfalls nicht, dass unser Leben hier aufhört während wir passiv bleiben und auf eine Rettung warten.“ Um drei Uhr morgens, zwei Tage später, stand Mina auf so leise sie konnte. Ihre Eltern schliefen tief, besonders ihre Mutter, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Je weniger sie wussten, desto besser. Sie setzte sich an ihren Tisch, um ihnen zu schreiben, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Natürlich würden sie – sie hielt mitten im Satz inne und atmete tief durch – aus gutem Grund. Aber all die Wahrheiten, nach denen sie unbewusst gelebt hatte, standen ihr nun ganz klar vor Augen und sie war bereit, zu tun, was immer sie tun musste, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Sie würde lernen, Maschinen unbrauchbar zu machen und Kommunikationssysteme zu stören. Ein Gewehr benützen? Eine Bombe anbringen? Ja, wenn es sein musste. Es schien kein Ende in dem Tunnel von Traurigkeit zu gebe, durch den sie jetzt ging. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass aus ihrem Kampf ein Vermächtnis des Friedens und des Wohlstandes, so wie sie es kannte, erwachsen würde. Aber jetzt musste ein Preis dafür bezahlt werden. Und wie war bereit, ihn zu zahlen. Mina packte ihren Mantel und ihren Rucksack und sah sich ein letztes Mal um – zu ihrem Schreibtisch, der jetzt frei von den üblichen Papierstapeln war und zu ihrem Webstuhl, der still dastand mit einem Lichtstrahl des Mondes quer durchzogen. Es kam noch eine Hoffnung kam in ihr auf, dass sie eines Tages wieder hier weitermachen könne, genau da, wo sie aufgehört hatte. Leise schloss sie ihre Tür und schlich zur Hintertür. Sie würde den Waldweg nehmen, der nur ihrer kleinen Gemeinschaft bekannt war und würde Jarrod und Piolo treffen. Bella und Tim empfanden, dass ihre Aufgabe hier war, zu erhalten, was sie konnten und durch die schwierigen Zeiten zu helfen, die ihnen auferlegt waren. Eine letzte Hoffnung war, dass sie sich wieder sehen würden. Es war halb vier Uhr morgens. Als Mina durch die Hintertür ging und sie schloss, zögerte sie einige Sekunden lang, lehnte sich gegen die Tür und betete um Führung und Begleitung. Was sie nicht sah, war ihre Mutter, die auf einem Stuhl in der Ecke saß. Was sie nicht hörte, war ihre Mutter, die ihr flüsternd Lebewohl sagte. Sie schaute in die Dunkelheit, nahm ihren Mut und ihre Bestimmtheit zusammen und machte sich auf in die Nacht.
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