VOICES FROM A BLACK KITCHEN
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Kehrseiten - von Lennora Esi

4/18/2019

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„Die Göttliche Komödie wäre ein überaus sensationelles Werk, wenn Dante statt in der Hölle im Konzentrationslager gewesen wäre“ H Szuman

Herbst 2009. Unsere Abschlussfahrt stand an und meine Freunde und ich beschlossen, die 17-stündige Zugfahrt nach Polen auf uns zu nehmen, um eine Woche in der schönen Stadt Krakau zu verbringen. Krakau – was für ein großartiges Reiseziel … Der Wind scheint mit jedem seiner Atemzüge - durch die engen Gassen und über die gepflasterten Straßen - eine Welle der Magie zu hauchen. Trompetenklang ertönt zu jeder vollen Stunde vom Glockenturm in alle vier Himmelsrichtungen und während Jazzmusik in den Kellerkneipen den Boden unter den Füßen im pulsierenden Takt vibrieren lässt, tragen die Geschichten von verzauberten Tauben, die einst Ritter waren einen mit jedem Schlag ihrer Flügel davon. Und damals konnte man ein Bier für ungefähr 50 Cent kaufen, was unsere jung-kargen Taschen und jugendliche Herzen gleichermaßen zufrieden stellte.

Aber der hauptsächliche Grund, warum ich mich damals für Krakau statt Wien entschied, war der geplante Besuch in Auschwitz-Birkenau am dritten oder vierten Tag.
Wer in Deutschland aufwächst, kann der Geschichte nicht entkommen … nicht mehr … dafür hat die Generation unserer Eltern gesorgt. Keine Verhüllung der Wahrheit, keine Verfälschung der Vergangenheit … 6 Millionen Juden, 200000 Roma, 250000 Menschen mit Behinderung, 70000 Straftäter und sogenannte Asoziale, Homosexuelle, politische Gegner, Kriegsgefangene … Leben … genommen für eine Ideologie, eine Idee und den Größenwahnsinn, nicht nur eines einzelnen Mannes … sondern einer ganzen Nation.

Durch das breite Tor mit dem bekannten Schild „ARBEIT MACHT FREI“ zu gehen und der Touristenführerin zuzuhören, die die Fakten herunterrasselte, war somit kaum mehr als ein „das-Textbuch-mit-eigenen-Augen-sehen“ … Es herrscht unbestreitbar eine schaurige Energie, ja … aber wir kannten dieses Gefühl bereits von Dachau, Jüdischen Museen und diversen Gedenkstätten.
Also unterhielten wir uns – Wie seltsam, dass diese eigentlich ganz hübschen Ziegelhäuser etwas so Böses beherbergt hatten – Der Besuch des Holocaustüberlebenden in der Schule damals, wisst ihr noch? Mann, das war krass! - Verrückt, dass das alles vor nicht mal einem Jahrhundert passiert ist ...
Und dann betraten wir eines dieser eigentlich ganz hübschen Ziegelhäuser … dickes Schweigen prallte uns entgegen, wie eine Betonwand und die Unterhaltung verstummte angesichts der plötzlichen Härte. Der Geruch von etwas … so Altem … , dass es nur tot sein konnte … stieg uns in die Nase.
Wir sind so gewohnt, die Welt mit den Augen wahrzunehmen, dass wir, wenn unsere anderen Sinne etwas zuerst aufspüren, nicht ganz verstehen, nicht ganz begreifen können, was wir zu denken oder zu fühlen haben. Alles, was wir wussten war, dass etwas Schreckliches auf uns zukam. Und als meine Augen meine anderen Sinne eingeholt hatten, vernebelte es mir den Blick vor Unglauben und doch sah ich so klar wie eh und je.
Hinter Glas, entlang einer Wand, die sich kilometerweit zu erstrecken schien, befand sich ein Meer aus grauem, leblosem Menschenhaar. Haar, welches gute 65 Jahre zuvor lebenden Menschen von ihren Köpfen geschoren worden war.
Von dort traten wir in einen Raum voller Koffer, auf denen die Namen der ehemaligen Besitzer noch immer in weißer Farbe geschrieben standen. Von da … ein Raum mit Schuhen … ein Raum mit Beinprothesen und hölzernen Gehstöcken. Mit jeder Barracke neuer Horror … Mahnbriefe dessen, wozu Menschen fähig sind.

Ich weiß noch genau, wann der emotionale Damm, den ich versucht hatte aufrecht zu erhalten, mit einer gewaltigen Tränenwucht auf mich einbrach, die ich für den Rest unseres Aufenthalts nicht aufhalten konnte … weil es meiner besten Freundin genau im selben Augenblick passierte. Es waren die Brillengestelle - goldfarbene Gestelle, deren Gläser entfernt worden waren und die auf einen Haufen geworfen worden waren …. aufgetürmt, wie eine Metapher für die Leichen, die einst sorglos zu einem menschlichen Lagerfeuer gestapelt wurden … die Sicht ihrer Besitzer zweimal gestohlen.
Ich weiß nicht, warum die Brillen so eine starke Wirkung auf uns hatten. Vielleicht wegen der Verwundbarkeit, die sie verkörperten. Vielleicht weil es der letzte Streich war, nach all den anderen Dingen, die wir gesehen hatten. Vielleicht weil niemand sonst ihnen Aufmerksamkeit zu schenken schien, so wie Nachbarn, Freunde und Kollegen damals sich entschlossen hatten, wegzusehen … Ich weiß nicht, was es war … alles, was ich weiß ist, dass mein Herz für den Rest der Führung durch Auschwitz und Birkenau gänzlich gebrochen war. Das Einzige, was das Ganze erträglich machte, waren meine Freunde, die … jeder auf seine Weise … denselben Schmerz empfanden.

Ich erinnere mich, wie wir durch eine der kleineren Barracken gingen, die mit Schwarz-Weiß-Fotografien von kleinen Kindern zugepflastert war … die jüdischen Kinder, die an dem selben Ort ermordet worden waren, an dem wir nun standen. Meine Freundinnen und ich standen eng zusammen, Arm in Arm hielten wir uns an einander fest und dachten an diese jungen verlorenen Leben, als wir vor der „Schwarzen Wand“ … der „Todesmauer“ standen, wo die Nazis Kugeln durch die Körper unschuldiger Menschen geschossen hatten.
Es war hart, es war schmerzhaft und mein Herz brach an diesem Tag etliche Male mehr, als im Lauf des ganzen Jahres.Aber das, was mich vollends niederschlug … was ich nicht vergessen werde, solange ich lebe … geschah auf der Busfahrt zurück in die Stadt.

Wir waren gerade stundenlang über diesen riesigen Friedhof gewandert … ein Friedhof den, ob es uns gefällt oder nicht unsere Vorfahren geschaffen hatten … und alles, worüber sich viele meiner Mitschüler auf dem Weg zurück unterhielten war, dass sie es kaum erwarten konnten, zurück zu kommen, um ein Nickerchen zu machen, was sie zu Abend essen würden und wie betrunken sie heute Nacht sein würden. Schiere und blanke Gleichgültigkeit. Keine Empörung, keine Diskussion, keine Trauer … nur dummes, oberflächliches „Millenial“-Gelaber.
Erst Jahre später begann ich zu verstehen, wie sie sich von dem, was wir gesehen hatten so abgrenzen konnten. Nicht weil sie, gleich was ich damals dachte, kaltherzige Menschen waren, aber wegen des Spruchs, der über unserer Geschichte steht: NIE WIEDER!
Wir lernen, uns zu erinnern, aber wir werden auch in einer Art falscher Sicherheit gewogen - es ist Geschichte ... vorbei ... abgeschlossen ... und es wird nicht wieder passieren.

Ich wurde am 27sten Januar 1991 geboren. Der 46ste Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Komischerweise reagieren die Leute, wenn ich ihnen das sage auf eine „Oh mann – das tut mir leid für dich“ - Art und Weise … Ich habe es immer als etwas Positives empfunden.
Wie dem auch sei, dieses Datum kennzeichnet für mich zweifellos einen wichtigen Tag und so beschloss ich dieses Jahr, im Rahmen unserer Arbeit bei der „Amnesty-International-Lehr-Gruppe“, eine Veranstaltung für den 74sten Jahrestag der Befreiung zu organisieren.

Der Opfer gedenken heißt sich zu erinnern. Sich erinnern heißt, die eigene Geschichte zu verstehen. Und seine Geschichte verstehen sollte heißen: zu versuchen, von ihr zu lernen.
Doch seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir „Nie Wieder“ immer und immer wieder passieren sehen. Die Völkermorde in China, Kambodscha, Ruanda und Bosnien, den Rassismus in der Rassentrennung in den USA und Apartheid in Südafrika, die religiöse Diskriminierung in Orten wie Birma, Irland und vielen Ländern im Nahen Osten und nationalistische, rechte Politik hat in den letzten Jahren mehr und mehr Anklang in westlichen Ländern gefunden.
Ehemaligen Opfern zu gedenken heißt, zu versuchen neue Opfer zu vermeiden. Um das zu tun, muss man die Unterdrücker aufhalten; und um Maßnahmen für irgendwas zu ergreifen – muss man wissen, gegen wen und was man auf der anderen Seite antritt.

Ca. 80% der Todesfälle infolge von Waffengebrauch in der schwarzen Bevölkerung der USA sind Morde. 80% der Todesfälle infolge von Waffengebrauch in der weißen Bevölkerung der USA sind Suizide. Mädchen und junge Frauen drücken ihren inneren Schmerz oft durch Ritzen, Magersucht und Bulimie aus, während Jungs und junge Männer sich eher Gangs anschließen und sich als Hooligans auf einem Feld treffen, um sich gegenseitig stumpfsinnig die Köpfe über ihre Lieblingsfußballmannschaften einzuschlagen. Selbstverachtung und nach außen gerichteter Zorn – Kehrseiten der gleichen Münze. Derselbe Wert: Gewalt! Dieselbe Währung: Hass!

Wie kommt man dazu, einer extremistischen Gruppe beizutreten? Nach allem, was wir wissen, nach allem, was die Welt gesehen hat, warum würde man noch immer solchen Ideologien Glauben schenken? Was um alles in der Welt könnte einen dazu motivieren, ein Leben voller Hass zu führen? Und wie kommt man physisch und geistig dazu, sich zu ändern und dieses Kapitel seines Lebens hinter sich zu lassen?

„Verletzte Menschen, verletzen Menschen.“ Y Berg

Das Gegenteil von Hass ist nicht Liebe, sondern Barmherzigkeit. Im Juni 2011 lud der „Summit Against Violent Extremism“ (Gipfeltreffen gegen gewalttätigen Extremismus) ehemalige Radikale aus verschiedensten Hintergründen ein, zusammen zu kommen und gemeinsam nach Antworten auf die Frage zu suchen, weshalb sie fanatischen Bewegungen beigetreten waren - und warum sie diese wieder verlassen hatten. Ehemalige Skinheads, Verfechter der weißen Vorherrschaftsbewegung, Islamisten, Gangmitglieder, konservative Priester … alle waren sie zusammengekommen, um zu verstehen und um eine gemeinsame Grundlage und Wege zu finden, junge Leute vor denselben Fehlern zu bewahren.

Was sie herausfanden war, dass, egal wie verschieden die Ideen, Ideologien oder Methoden dieser Organisationen sein mochten, die Gründe einzusteigen, dieselben waren:
Das Gefühl von Zugehörigkeit, Stärke und Solidarität, indem man die Vorstellung von Überlegenheit einer anderen Rasse, Religion oder Gruppe gegenüber skizzierte und durchsetzte.
Und der Grund auszusteigen? Weil sie Mitgefühl und Barmherzigkeit von jemandem erfahren hatten, von dem sie nicht glaubten, dass sie diese verdienten.

Der Hauptredner bei unserer Veranstaltung im Januar war Tony McAleer, der Präsident des Verwaltungsrates der Nord-Amerikanischen Exit-Gruppe „Life After Hate“, welche nach dem Gipfeltreffen in Dublin gegründet wurde. Ich hatte der Organisation eine Email geschrieben, ohne große Hoffnung, dass es tatsächlich klappen würde … aber Tony kontaktierte mich ein paar Tage später und sagte, er würde gerne an unserer Veranstaltung reden. Selbst ein ehemaliger Verfechter der weißen Vorherrschaftsbewegung, hatten sich Tonys Ansichten und Einstellungen geändert, nachdem er Vater wurde und von seinen Kindern bedingungslose Liebe erhielt – ein Geschenk, das er seiner Meinung nach, nicht verdient hatte.

Vor einigen Jahren, als Tony schon sehr aktiv gegen den Faschismus eintrat, wurde er für eine Dokumentation angefragt, die in Auschwitz gedreht werden sollte.

Als ich Auschwitz besuchte wusste ich: hätte ich damals gelebt, wäre ich als „Mischling“ möglicherweise ein Opfer gewesen. Eine beängstigende Erkenntnis.
Tony besuchte Auschwitz und ihm war klar: hätte er damals gelebt, wäre er zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben ein Nazi, ein Wächter und Mörder gewesen wäre. Eine absolut untröstliche Erkenntnis.

Wir alle haben Dinge in unserer Vergangenheit, auf die wir nicht stolz sind. Dinge, die wir am liebsten verstecken, wegschließen und nie wieder erwähnen würden.
Stelle dir vor, all diese Leichen, all diese verborgenen Büchsen der Pandora, würden sich mit einem Mal und mit einer solchen Wucht auf deiner Brust entladen, dass du kaum mehr zu atmen vermagst.
Stell dir vor, Jahre deines Lebens den Holocaust geleugnet zu haben, behauptet zu haben, dass die Zahlen nicht stimmen könnten, dass die Kinder nie existiert hätten, dass die Koffer von den Amerikanern dort hingebracht worden seien, dass alles von den Juden erfunden worden sei, um eine Art Weltherrschaft zu erlangen …
Und dann stell dir vor, durch Auschwitz zu laufen, die Haare zu riechen, die lachenden Gesichter später unschuldig ermorderter Kinder zu sehen, die Masse an Protesen, Brillen und Schuhe wahrzunehmen.
Und dann stell dir vor, einen Platz in all dieser Scham suchen zu müssen, um dir selbst zu vergeben.

So wie in der schwarzen Gesellschaft Armut von den Anführern krimineller Gangs ausgenutzt wird, so wird Unsicherheit in der weißen Bevölkerung von den Anführern der Gruppen ausgenutzt, die Hass kultivieren.
Scham treibt Menschen dazu, sich selbst weh zu tun und Scham treibt Menschen dazu, anderen weh zu tun. Scham ist eine so alles vereinnahmende Emotion, dass sie irgendeine Art von Ventil braucht – sie ist so unerträglich, dass man einen Weg finden muss, sie loszulassen ...

„An Ärger fest zu halten ist wie Gift zu trinken und zu hoffen, dass jemand anderes daran stirbt“ Unbekannt

Vergeben ist nicht Vergessen – aber manchmal kann sich Vergebung anfühlen wie Betrug. - Wie kannst du dem Partner, der dich betrogen hat und fremdgegangen ist, verzeihen? Hast du keine Achtung vor dir selbst? Wie kannst du dem Autofahrer, der dein Kind umgebracht hat und Fahrerflucht beging, vergeben? Hast du keine Achtung vor der Erinnerung an dein Kind?

Man kann vielleicht die Person von der Ideologie trennen. Aber wo zieht man den Schlussstrich und wann und wie trennt man die Menschen von ihren Taten? Wo hört ein gescheitertes System auf und wo fängt Eigenverantwortung an? Wir tendieren dazu, Menschen auszugrenzen, die nicht derselben Meinung sind wie wir. Wir stempeln sie als dumm, ungebildet und schlichtweg als schlechte Menschen ab und belassen es dabei.

Viele Rechtsradikale bleiben nicht ihr Leben lang Extremisten weil, wie Tony es erklärte, es sehr anstrengend ist, in ständiger Wut und Hass zu leben. Ich glaube also, die wirkliche Frage ist: Wem tut man am Ende weh und wie viele Freunde statt Feinde könntest du dir machen, indem du schlicht und einfach zuhörst und versuchst, die Quelle des Schmerzes hinter den Worten zu finden? Ich bin ganz ehrlich ... es ist schwer und es ist eine Herausforderung und da ich ein sehr emotionaler Mensch bin, bin ich mir nicht sicher, ob ich das kann.
Aber ich will es versuchen!

Eine Münze wird nie ihre eigene Kehrseite sehen … also muss man sie zum Schmelzen bringen ... die Schranken brechen und die Grenzen überschreiten ... diejenigen, die anders sind und denken, suchen ... Diskussionen führen … und von da an gehen wir weiter. Es liegt immer mehr hinter der Geschichte eines Menschen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Wir alle haben Platz nach oben … Und Meinungen können sich ändern, wenn man ihnen den Raum dazu lässt.
1 Kommentar
Christina Benesch
5/1/2019 08:51:06 am

Wow!! Danke!!
Es gibt auch ein super Buch, das dieses Thema aufgreift...“ wider den Gehorsam“. Den Autor weiß ich nicht so genau, es könnte Arno Gruen sein (?)
Dein Geschriebenes hat mich sehr bewegt!

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    Die Autorinnen


    ​Lib Briscoe ist eine darstellende Künstlerin, Schriftstellerin, Lehrerin und Chorleiterin aus Philadelphia, USA. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lennora Esi ist eine darstellende Künstlerin und Schriftstellerin aus Ravensburg, Deutschland. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lektor: Manfred Bürkle

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