VOICES FROM A BLACK KITCHEN
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Ich traf Gott in New York - von Lennora Esi

4/29/2018

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,* nach einem Ausflug nach NYC im Oktober 2017

                                                                                                I
Ein Mann saß in der Mitte des Bahnsteigs auf einer Bank. Obwohl Wolken den Morgen bedeckten, trug er eine Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern, die seine Augen verhüllten. Er spielte Gitarre. Wobei der Ausdruck „spielen“ vielleicht übertrieben ist, denn sein Instrument hatte nur noch drei Saiten und er schlug beständig die gleichen Töne in einförmigem Rhythmus. Ich versuchte mich von dem verstörenden Geräusch abzulenken und suchte nach Ihm in der Menge der Gesichter.
Ich arbeite als Journalistin für ein lokales Magazin in New York und konnte es immer noch nicht glauben, dass Er mir ein Interview zugesagt hatte. Das war ein Meilenstein in meiner Karriere.
Er hatte mir gesagt, ich solle Ihn hier, an der Ecke 74. und Broadway treffen und ich wartete bereits seit einer halben Stunde. Was Er hier wollte, war mir schleierhaft - eine U-Bahnstation in Jackson Heights, Queens, ist wohl kaum der Ort, an dem man erwarten würde, den Schöpfer aller Dinge zu treffen. Aber meine Großmutter sagte stets: „Die Wege des Herrn sind unergründlich!“
Ich hatte mir eine Liste mit Fragen zurechtgelegt. Welche war die richtige Religion? War Jesus wirklich sein Sohn? Wie genau hatte er die Welt erschaffen? Ich war kurz davor, alles zu ergründen!
Eine Welle schnell schreitender New Yorker, die auf dem Weg zur Arbeit in den Zug ein und ausstiegen, rauschte an mir vorbei, als ich plötzlich eine sich langsam bewegende Gestalt bemerkte. Ein Walross in einem Schwarm von Heringen. Ich wusste sofort, dass Er es sein musste,
obwohl Er in nichts dem glich, was ich mir vorgestellt hatte. Er war kleiner als ich, glatzköpfig und trug eine breite, ausgewaschene Jeans, wie man sie aus den 90ern kannte. Dazu einen senffarbenen Pulli, der Seinen runden Bauch betonte.
„Du bist zu spät!“ sagte ich. Er zwinkerte mir zu und zuckte mit den Schultern. „Wenn man so lange lebt wie ich, hat man eine andere Auffassung von Zeit!“
Sein Blick ruhte auf dem Mann, der auf die Saiten seiner halben Gitarre schlug. „Schön“ sagte Er mit einem gütigen Lächeln. Ich wusste nicht so recht, was ich von Ihm halten sollte.

                                                                                            II
Wir nahmen die Line E, welche uns bis nach Manhatten brachte. An der 72. Straße stiegen wir aus und passierten die Strawberry Fields auf unserem Weg zum See im Central Park. Ich bin schon unzählige Male hier gewesen und bin immer noch faszieniert von dieser ruhigen Oase inmitten der ansonsten so betriebsamen Stadt. Ich sah einem Boot mit zwei Liebenden nach, das an uns vorbei trieb. Es erinnerte mich an eine Szene in den Kanälen von Venedig. „Ja, daran muss ich auch immer denken.“ bemerkte Er ... Ich hatte meine Gedanken nicht laut ausgesprochen.
„Ich hab ein paar Fragen!“ begann ich. „Das dachte ich mir!“ antwortete Er mit einem Zwinkern. „Du kannst mich alles fragen, was du willst. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich deine Frage nicht mit einer weiteren Frage beantworte.“
Die Liebenden machten kehrt. Ich nahm meine Liste hervor und versuchte, mich zu entscheiden, was ich Ihn als erstes fragen sollte.
Ein Kind trat neben mich und winkte dem Paar zu. Sie winkten zurück. Ich drehte mich zu Ihm um, aber Er war verschwunden. Ich blickte den Weg auf und ab und das Kind neben mir begann, zu kichern. Es sah seltsam aus. Ein Auge war höher als das andere in seinem braunen Gesicht plaziert und - ich konnte nicht feststellen ob es ein Junge oder ein Mädchen war - seine … oder ihre lockigen Haare waren an einzelnen Stellen blau gefärbt. Und dann realisierte ich ... dass Er gar nicht weggegangen war … Er hatte nur die Erscheinung geändert.
Das Kind nahm mich bei der Hand und führte mich auf den Weg. Noch immer verblüfft von dieser plötzlichen Verwandlung folgte ich.

                                                                                          III
Wir nahmen den Aufzug zur Spitze des Empire State Buildings. Das Kind rannte aus der Tür und sprang auf einen Hocker, der gefährlich wackelte. Sofort wurde mein elterlicher Instinkt geweckt: „Geh da runter!“ … Hatte ich gerade Gott zurechtgewiesen?
Das Kind hörte nicht, sondern fing an, die Gebäude um uns herum aufzuzeigen. Der Hocker wackelte. „Vorsicht!“
Das Kind sprang beim Anblick des Chrystler Buildings freudig in die Luft und fiel vom Hocker. Es rappelte sich auf und gab mir ein Zeichen, Es hochzuheben, damit Es die Skyline weiter betrachten konnte.
„Was machst du denn? Das ist lächerlich! Die Leute da unten beten dich an und morden seit Jahrhunderten in deinem Namen und du spielst hier oben Spielchen?!“
Das Kind versuchte wieder, auf den Hocker zu springen. „Ich habe dir gesagt, dass du das nicht machen sollst!“ Es kletterte hoch. „Warum hörst du mir nicht zu? Du bist gerade gestürzt und hast es immer noch nichts daraus gelernt! “ Das Kind sah mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Als wüsste Es etwas, das ich nicht wusste. Eine Frau lief kopfschüttelnd an uns vorüber: „Man kann seinen Kindern so viel beibringen wie man will. Sie werden immer machen, was sie wollen!“ Das Kind schenkte mir ein überlegenes Lächeln. „Was? Soll das heißen, dass alle Menschen, denen etwas Schlimmes zugestoßen ist … selber schuld sind?“ Es schüttelte den Kopf. Es streckte seine kleinen Arme nach mir aus. „Vergiss es, ich helfe dir sicher nicht! Du bist da rauf! Du kommst selbst wieder runter! Ist nicht mein Problem!“ Das Kind nahm langsam und mit einem wortlosen Ausdruck der Enttäuschung die Arme herunter ... und ich verstand … „Wie wär's … wenn ich dir meine Hand gebe und du springst aber selbst?“ Es strahlte mich an und reichte mir Seine Hand.

                                                                                             IV
Wir liefen die 7te Straße hinunter, in Richtung Lower Manhatten. Das Kind hüpfte glücklich neben mir her. Wir kauften uns zwei New Yorker Straßen Hot Dogs und Das Kind bezahlte stolz. Es bekleckerte sein T-Shirt mit Ketchup und Senf, während Es mich zum Hafen brachte, wo wir ein Boot zur Ellis Island bestiegen.
Wir betraten den Boden, der einst für viele Menschen der erste Kontakt mit einem Neuanfang war und liefen am Strand entlang. Ich schaute hinüber zur Freiheitsstatue, die wie ein Zeichen der Hoffnung über die Stadt blickte, die nie schläft, welche auf Lügen gebaut wurde … wie fast alle Städte.
„Was ich nicht verstehe“, sagte ich, „ist, warum du die Dinge nicht stoppst, bevor sie geschehen. Offensichtlich weißt du, was passieren wird! Hast du nicht immer deine Propheten geschickt und Leute, die die Zukunft vorhersagen konnten? Wie konnte beispielsweise ein Apotheker des 16. Jahrhunderts wissen, was 400 Jahre später passieren würde ?“
„Mahicantuck“ sagte eine tiefe, heisere Stimme neben mir. Das Kind war verschwunden. Eine große Frau lief nun an meiner Seite. Sie trug ein langes weißes Kleid und ihr wallendes weißes Haar schimmerte silbern über ihrem faltigen schwarzen Gesicht.
„Was?“
„Mahicantuck. So nannten sie diesen Fluss, bevor er zum „Hudson River“ wurde. Der Fluss, der in zwei Richtungen fließt. Faszinierend, nicht wahr? In allen Dingen gibt es Dualität. Also, sag mir ... haben die Propheten es vorausgesagt, weil es passieren würde? Oder ist es passiert, weil sie es vorrausgesagt haben?“

                                                                                             V
Ich liebe New York im Oktober. Wenn die Blätter ihre Farbe wechseln und die ganze Stadt in goldenen und bronzenen Farben des Herbstes schimmert. Wir liefen über die Brooklyn Brigde und betrachteten den Sonnenuntergang über den Hochhäusern am East River. Eigentlich bringt dieser Anblick mich immer zur Ruhe, aber aus irgendeinem Grund war ich innerlich aufgewühlt.
„Na gut. Aber was ist mit Naturkatastrophen? Menschliches Verhalten hatte nicht immer einen Einfluss auf Erdbeben und Überschwemmungen!“ „Das stimmt …“, gab Sie zurück und sah hinaus in den Sonnenuntergang. Ich konnte nicht erkennen, ob Sie über eine Antwort nachdachte, oder ob Ihre Gedanken sich in den Dächern der Stadt verloren hatten. „Könntest du sie nicht aufhalten?“, fragte ich. „Vielleicht ...“, sagte Sie. „Du hast es also noch gar nicht versucht? Kein Wunder, dass die Welt so verkorkst ist. Als du uns nach deinem Ebenbild geschaffen hast, hast du uns genauso faul gemacht wie dich!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nur die christliche Interpretation der Schöpfung.“
„Aber, wenn du uns nicht als dein Ebenbild erschaffen hast ... was ist dann der Sinn unserer Existenz?“ Sie drehte sich um und sah mich an.
„Manchmal gibt es keine Antworten. Aber das heißt nicht, dass man sich mit der Frage zufrieden geben muss.“
„Also du meinst, wir müssen weiter nach der Antwort suchen?“
„Ich meine, manchmal gibt es keine Antworten. Aber das heißt nicht, dass man sich mit der Frage zufrieden geben muss.“
„Das macht keinen Sinn!“
„Alles eine Frage der Perspektive.“*
Sie fing an, mir auf die Nerven zu gehen.
„Dann müssen wir die Frage anders stellen?“
„Oder ist die Frage die Antwort?“
„Ist das die Antwort?“
Sie lächelte. „Komm! Du siehst müde aus.“

                                                                                             VI
Als Kind hatte ich dieses Bild im Kopf, dass Gott auf einem von goldenen Toren umgebenen Thron auf der heiligsten aller Wolken lebte. Diese Vorstellung änderte sich natürlich im Laufe der Zeit. Aber nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass Sie in einer Erdgeschosswohnung in Harlem wohnte!
Wir betraten das Haus und liefen zum hinteren Teil des Gebäudes. Sie öffnete eine Tür, auf der die Farbe der Nummer 12 abblätterte ...
Sie führte mich in ein Zimmer im hinteren Teil ihrer Behausung und als ich meinen Kopf auf dem Kissen ablegte, fühlte es sich fast an, als ob ich in die Wolken aus der Vorstellung meiner Kindheit eintauchte. Ich hatte kaum den Gedanken zu Ende gedacht, welch seltsame Wendung der Tag genommen hatte, als ich auch schon einschlief.
Das erste, was mir auffiel, als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ein sanftes Geräusch. Musik spielte aus einer alten Stereoanlage auf der Kommode und ein süßer, kleiner Kollobri saß auf einem Ast im Garten und pfiff seine eigene Melodie im perfekten Einklang dazu.
Ich ging in die Küche. Eine Tasse heißen Tees wartete schon auf dem Tisch und das Kind, welches eine alte Frau gewesen war, war nun wieder der glatzköpfige Mann.
Ich sah mich im Zimmer um. Ein Bild der Maria hing an der Wand neben den 99 Namen Gottes, die in arabischen Schriftzeichen auf Pergament geschrieben waren. Eine Statue der Shiva stand auf einem Stapel Bücher über Meditation und Erzählungen aus Hawaii und in der Menorah auf der Mitte des Tisches brannten sieben Kerzen. Ich schlürfte meinen Tee.
„Wer bist du wirklich?“ fragte ich den Mann mit Glatze. „Ich bin, wen auch immer du brauchst.“ „Also existierst du nicht wirklich?“ „Das ...“, sagte Er und zwinkerte mir zu, „liegt an dir, zu entscheiden.“

                                                                                      VII
Wir verließen den Ort mit dem sanften Rufen des Kollibris und tauchten wieder in das Konzert von Autohupen des Big Apple ein. Wir nahmen die rote Linie and stiegen um in die Linie E, die uns den ganzen Weg zurück zur Ecke 74. und Broadway brachte.
„Hier verabschieden wir uns wieder ...“ sagte Er. Ich hatte inzwischen vollkommen vergessen, dass eigentlich ich Ihn gebeten hatte um das Interview. Es wäre mein Part gewesen, es zu Ende zu bringen, aber wie zuvor hatte Er es mir aus der Hand genommen und ich ließ mich sanft führen.
„Ist das eine Art Metapher? Am gleichen Ort wieder anzukommen, wo man begonnen hatte?“
„Hier haben wir angefangen, ja. Aber ist es wirklich noch, so wie es war als wir angefangen haben?“
„Naja … nein.“
Er nickte kaum merklich. „Gibt es noch etwas, das du mich fragen möchtest?“
Ich dachte an die Fragen auf meiner Liste. Keine einzige hatte ich gestellt.
Ich betrachtete den Mann, der auf der Bank in der Mitte des Bahnsteigs saß. Es war etwas Beruhigendes in der Beständigkeit seiner Musik.
„Werden die Red Socks die Saison gewinnen?“ Er lächelte mich an und sagte: „Darauf bin ich ebenso gespannt, wie du!“ Und mit einem letzten Zwinkern bestieg Er die Linie M und verließ die Station, in der der Mann mit der orangefarbenen Brille noch immer auf die Saiten seiner halben Gitarre schlug.

*Maryann Navarro
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    Die Autorinnen


    ​Lib Briscoe ist eine darstellende Künstlerin, Schriftstellerin, Lehrerin und Chorleiterin aus Philadelphia, USA. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lennora Esi ist eine darstellende Künstlerin und Schriftstellerin aus Ravensburg, Deutschland. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lektor: Manfred Bürkle

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