Heute. Dieser Tag. Der heutige Tag. Heute. Oggi … Aujourd'hui … Hoy. Nur ein weiterer Tag. 24 Stunden. 1440 Minuten. 86400 Sekunden. Ein ganzer Kreislauf der Sonne, die aufgeht, über den Horizont wandert und auf der anderen Seite wieder abtaucht. Eine weitere durchgestrichene Nummer im Kalender. Heute. Ist einer dieser Tage … an dem ich mich fühle, als ob eine Fliege produktiver war als ich. Ehrlich, kein Scherz. Diese Fliege hat es tatsächlich geschafft, in der selben Zeit zu schlüpfen, ihre Kindheit zu durchleben, die Pubertät durchzumachen, sich fortzupflanzen, alt zu werden und zu sterben, in der ich es geschafft habe, mich zu entscheiden, was ich zu Abend essen will. Na schön, ich übertreibe ein wenig … so schlimm war es auch nicht … oder? Ich durchlaufe meine Schritte nochmals mental ... ich bin aufgestanden, habe gefrühstückt, mich angezogen, war voller Tatendrang … habe für zwei Sekunden den Faden verloren … und urplötzlich … haben meine Nachbarn im Haus gegenüber ihre Lichter schon wieder angeknipst, hat die Uhr sechs Stunden mühelos übersprungen und ich überhaupt nichts auf die Reihe gebracht!
Okay … kein Grund zur Panik … ich habe noch ein paar Stunden, bevor ich ins Bett gehen muss, um die acht Stunden Schlaf zu bekommen, die wie ich in einem Facebook Post von einem Professor für Neurologie und Psychologie gesehen habe, essenziell wichtig sind, weil die Hirnaktivität nach 16 Stunden anfängt, nachzulassen und nicht dazu in der Lage ist, neue Erinnerungen zu speichern, sodass man sich amnesisch vorkommt, da der Körper keine Chance hat, das toxische Protein Beta Amyloid, welches mit Alzheimer assoziiert wird, los zu werden und das Immunsystem beginnt, seine Tätigkeit einzustellen, wobei Anti-Krebs Kampfzellen und kardiovaskulärer Stressabbau reduziert werden … und ich habe wirklich keine Lust, mit 33 an einem Herz-Schlag-Demenz-Krebs-Infarkt-Anfall zu sterben. Aber ich habe auch wirklich keine Lust, meinen Kollegen morgen in der Arbeit zu erzählen, dass das Spannenste, was mir heute passiert ist das „2 für 1“-Hähnchenschenkel-Angebot zum Mittagessen war. Nachrichten! Ich könnte Nachrichten schauen! Mich informieren … über die neuesten Geschehnisse in der Welt auf den neuesten Stand bringen … aber, wenn ich von den ganzen beschissenen Dingen, die sich überall ereignen höre, werde ich einfach nur wütend und traurig und fühle mich klein und unbedeutend und machtlos und ich habe gerade nicht die Zeit, mich selbst aufzurappeln und das System zu bekämpfen! Ein Buch lesen! Keine wirkliche Option … Ich werde mich mit Sicherheit nur in der Geschichte verlieren und den Rest des Tages mit Lesen verbringen … und dadurch noch mehr Zeit verlieren. Vielleicht brauchen wir etwas für den Haushalt? Ich könnte einkaufen gehen! Kinderleicht, einfach Schuhe und Jacke anziehen und mich dann entscheiden, wo ich für was hingehen soll … und dann haben die das womöglich nicht auf Lager … also muss ich zu einem anderen Laden gehen und ehe ich mich versehe, habe ich fünf Läden durchforstet und mir tonnenweise Krempel angehäuft, mit Außnahme dessen, wofür ich ursprünglich das Haus verlassen hatte. Dann kann ich mir die Mühe ebenso gut sparen und einfach online bestellen. Aber ich versuche eigentlich gerade, die Online-Monopol-Körperschaft zu boykottieren … das System bekämpfen, jawohl! Oh … da schau her … ich hab' gerade die letzte Stunde mit dem Versuch verbracht, mich für eine Tätigkeit zu entscheiden, mit der ich die wenige restliche Zeit verbringen könnte, die mir noch übrig bleibt. Kreativ sein! Das ist es! Arbeiten! Ja! Ich setze mich an meinen Computer un beginne, zu schreiben: Tagebuch einer Krähe, Tag 1 Liebes Tagebuch, bin heute drei mal im Kreis geflogen. Habe mich anschließend auf einen Ast gesetzt und Windstöße gezählt. Beim 43sten kam die Krähe vom Nachbarnest angeflogen und hat sich auf dem Ast unter mir niedergelassen. Gekräht hat sie dann. Drei Mal. Habe daraufhin zurück gekräht. Vier Mal. Haben dann geschwiegen. 26 Windstöße lang. Tag 2 Liebes Tagebuch, bin heute auf den Asphalt geflogen und habe an einer alten Brotscheibe geknabbert. Käsebrot … hat nicht geschmeckt. Habe trotzdem alle Krümel aufgepickt. Bin dann ein paar Stufen auf der Steintreppe hinabgesprungen. Eine nach der anderen. Bin davongeflogen, als ein Mensch näher kam. Tag 3 Liebes Tagebuch, habe mich heute mit einer Möwe unterhalten. Dann mit einem Eichhörnchen … und dann mit einem Stinktier. Okay … diese Zeilen sind entweder unglaublich brilliant - oder der größte Schwachsinn, den ich je verfasst habe. Ich lösche meine Beschäftigung der letzten 45 Minuten. Warum höre ich nicht einfach ein wenig Musik, nehme ein Bad, ruhe mich aus und tanke Energie, sodass ich morgen wacher und produktiver sein kann … Scheiße … das hab' ich gestern schon gemacht! Ich gerate langsam in Panik. Es ist 7 Uhr und ich muss noch eine Aktivität finden, die mir den Tag rettet und mich nicht mit dem Gefühl zurücklässt, ein nutzloser Brocken menschlicher Existenz zu sein… eine Träumerin … die ihr Leben verträumt … war das nicht mal ein Lied von Ozzy Osbourne? Nein – stopp – fokusiert bleiben! Ich fange an, das Abendessen vorzubereiten, schrubbe stattdessen schließlich das Spühlbecken im Bad, entscheide mich dann, die Wäsche zu sortieren, was bald beginnt mich zu langweilen, recherchiere also neue Jobangebote im Internet … und finde mich eine Stunde später vor einem unordentlichen Haufen von dreckiger Unterwäsche, Zahnbürsten, mariniertem Rind und ungekochten Broccolistücken wieder, welches mich bestimmt eine Stunde der Organisation kosten wird! Ich nehme das Buch „Erfolgreiches Zeitmanagement für Dummies“ vom Regal … tausche es mit meinem „Im Hier und Jetzt bleiben“ Handbuch aus … vergesse, was ich gelesen habe, als mein Handy klingelt … checke meine WhatsApp Nachrichten … scrolle durch die neuen Profilbilder der Leute (weil ich mir geschworen habe, keine Zeit mehr damit zu verschwenden, hirnlos irgendwelche Posts auf Instagram durchzuscrawlen) und stelle fest, dass ich eine weitere Stunde verloren habe… noch immer vor vier unfertigen Aufgaben stehe und mit meinem Leben kein Stück glücklicher bin. Ich ziehe Weinen in Betracht, überlege es mir aber dann doch anders, da dieser Gefühlsausbruch bestimmt eine halbe Stunde andauern würde … EINE HALBE STUNDE MEINES LEBENS, DIE ICH NICHT HABE! … und entscheide mich stattdessen, für einen Spaziergang im Dunkeln. Mit frischer Luft kann man nichts falsch machen und Bewegung ist nie Zeitverschwendung. Die Welt sieht nach einem Spaziergang immer besser aus. Es ist, als ob die Luft nicht nur die Lungen reinigt, sondern auch den Raum im Kopf säubert. Dem Gehirn Platz zum Atmen gibt … um über das Leben, die Liebe, die Zukunft zu sinnieren … ist das nicht lustig? Wie sich alles immer um die Zukunft dreht? Wir trainieren daheim Ettikette, um uns im Kindergarten nicht zu blamieren. Wir gehen in den Kindergarten, um uns an die anderen Kinder in der Schule zu gewöhnen. Die Schule bereitet uns für die Uni vor. Die Uni auf die Arbeit. Wir arbeiten uns den Arsch ab, um gute Rente zu bekommen und verbringen die letzten Jahre unseres Lebens damit, uns von den Angstrengungen zu erholen, die die Jahre der Vorbereitung auf diesen Moment mit sich gebracht haben. Doch wie heißt es so schön: Man kann Pläne schmieden, aber am Schluss kommt es eh anders. Das einzige, was man mit Sicherheit weiß ist, dass man unweigerlich irgendwann sterben wird … also im Prinzip … von dem Tag an, da wir geboren werden … bereiten wir uns darauf vor, zu sterben. Ich versuche, mich nicht in einer pseudo-philosophischen Existenzkrise zu verlieren und richte meine Aufmerksamkeit auf die Ente, die gerade meinen Weg kreuzt. Verdammter Glückspilz! Keine Sorge auf der Welt. Keine Ziele, die sie erreichen muss, kein Drang, sich beweisen zu müssen. Und das Schlimmste dabei ist … sie weiß nicht mal, wie gut es sie hat! Ich setze mich auf eine Bank, kurz davor, mich der Niederlage hin zu geben, dass heute einfach noch einer dieser Tage ist, als es beginnt zu regnen. Das nenne ich mal Pech. Ich erhebe mich wieder und laufe nach Hause.Ich ziehe mir die Jacke fester um den Körper und beschleunige meine Schritte, als die Tropfen schwerer und schwerer werden. Ich hole einen Mann im Rollstuhl ein, der sich den Berg hinauf kämpft. Ich halte an, um ihm meine Hilfe anzubieten und schiebe ihn den restlichen Weg … na gut, wenigstens habe ich meine gute Tat für heute getan … verabschiede mich und renne nach Hause. Als ich meine Wohnung betrete … die noch immer unfertigen Aufgaben, der leere Bildschirm auf dem Laptop und die spottenden Zeiger an der Uhr mir ins Gesicht starrend ... nehme ich mir einen Moment, um zu sein … einfach sein … und erinnere mich daran, dass nicht alles spektakulär sein muss … dass diese Verwirrung ein notwendiges Übel ist … dass diese Tage ein Lernprozess sind … und dass Zeit nur verschwendet ist, wenn ich mir sage, dass sie es ist. Ich lasse das Rind, die Zahnbürsten und den Wäscheberg sein – war das nicht mal ein Lied von den Beatles? - schenke der Uhr einen überlegenen Zwinker … versuche, das Beste aus diesem Tag zu machen – und schreibe … das hier.
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