Die junge Frau trat in die Wahlkabine, drehte sich um und zog den Vorhang zu. Diese Geste, deren Sinn eigentlich war, ihr ein Gefühl von Freiheit zu verleihen, verstärkte hingegen ihr Empfinden, schutzlos und isoliert zu sein.
Sie war physisch zwar abgesondert, doch all die Einflüsse waren mit ihr in die Kabine getreten. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, hatte jedoch nicht die Absicht, dem zu entsprechen. Sie griff nach dem Bleistift und war erstaunt, als sie ein leichtes Zittern ihrer Hand verspürte – sie hatte es sich leichter vorgestellt. „Ich kann weder Respekt noch Zuneigung empfinden für eine Regierung, die ein Unrecht nach dem andern begeht, um die eigene Unmoral zu verteidigen.“ Mahatma Gandhi (Letter to the Viceroy, Young India, August 4, 1920) Das Gewissen der Machthaber Ich frage mich oft, ob es möglich ist, dass Angehörige einer herrschenden Klasse gewissenhafte Entscheider sind – dass das Gewissen Hauptbestandteil der Regierungstätigkeit ist. Nicht nur ab und zu, sondern immer. Nicht nur als idealistischer Neuling, sondern auch als erfahrener und routinierter Politiker. Ersetzen Opportunität und Zweckdienlichkeit schlussendlich immer Ethik und Moral? Bedeutet die Aufnahme im Club der Herrschenden immer den Beginn einer spontanen und unausweichlichen Metamorphose? Sind Macht und Status, die der Job mit sich bringt, grundsätzlich korrumpierend? Gibt es einen Punkt, an dem die Größe der Macht so absolut wird, dass Korruptheit die Grundfesten des Charakters erreicht und es kein Zurück mehr gibt? Der geschichtlichen Empirie nach müsste man sagen, ja. Und eben jener Beweis würde es nahelegen, dass jene, die der Versuchung nicht erliegen, neutralisiert, entmachtet und ausgegrenzt werden. Was um alles in der Welt hat uns so weit gebracht? Eine Vergangenheit, eine Geschichte – beruhend auf Sklaverei und Völkermord, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus, Diebstahl und Brutalität, Hass und Vorherrschaft der weißen Rasse, unaufgearbeitet und mit unverheilten Wunden, doch wohlauf und tief eingewoben in die DNA der Gegenwart – hält insgeheim und verdeckt die Zügel in der Hand, sodass auch in Zukunft der gleiche Kurs beibehalten wird: Mit Kungeleien und Machenschaften, die Ohnmächtigen auf ewig und besten Gewissens den Wölfen zum Fraß vorwerfend - im Namen des Profits. Kungeleien und Machenschaften – 1. Szenario Frühe 1770er Jahre. Zwei Staatsmänner stehen im Raum, die Hände bedeutungsvoll hinter dem Rücken verschränkt, die Stirn in tiefe Falten gelegt, die Köpfe gesenkt ob der Schwere der Entscheidung. Ein dritter steht nahe der Türe, resolut, offensichtlich verärgert, bereit, die Verhandlung platzen zu lassen, wenn es sein muss. Entweder die Sklaverei bleibt, oder der Süden ist raus. Er weiß, er hat die beiden heuchlerischen Sklavenbesitzer in der Tasche. Kungeleien und Machenschaften – 2. Szenario Im Jahr 1812. Der Raum ist voller Spannung, erhitzte Gemüter, Rufe, leidenschaftliche Auseinandersetzungen und glühende Gegnerschaft. Es stinkt nach Wutschweiß. Zu früh für Krieg. Die Leute sind des Krieges müde. Aber der erste Krieg, hat noch kein Ende gefunden. England beherrscht die See. England behindert unseren Handel. England steht auf der Seite der Indianer, hindert uns an der Expansion nach Westen. Die Wilden verweigern, sich anzupassen. Wir müssen erobern und expandieren. Es ist unsere offenkundige Bestimmung. Wir ziehen in den Krieg. Kungeleien und Machenschaften – 3. Szenario Späte 1870er Jahre. Ein Gerichtssaal voller chinesischer Einwanderer; Amerikaner mit chinesischer Abstammung, weißer Anwälte, eine weißer Richter. Ein Chinese sitzt auf der Anklagebank. Keine Papiere. Wo sind sie? Zu hause. Mein Klient wünscht, auszusagen. Bist du ein Christ? Nein. Dann ist der Eid auf die Bibel nichtig und unwirksam. Das Wort eines Chinesen fällt nicht ins Gewicht. Gibt es einen Weißen, der zur Bestätigung aussagen kann? Nein. Ausweisen! Kungeleien und Machenschaften – 4. Szenario Im Jahr 1914. Eine Zeltstadt. Kohlearbeiter und ihre Familien leben in ungeheuerlichen Verhältnissen. Zum Schutz gegen die Banden der Besitzer bewaffnet. Ein gewaltiger Streik, Gewerkschaftssolidarität. Regierung und Minenbesitzer stecken unter einer Decke. Herein treten die Streikbrecher, herein tritt die Nationalgarde. Ein Maschinengewehr eröffnet das Feuer. Ein Kampf entsteht, ein Feuer von der Garde entfacht. Ein Massaker – Niederlage. Viele Tote. Tote Kinder. Unterdrückung. Keine Erfolge, keine Gerechtigkeit. Wie also umgehen, mit diesen sehr makelbehafteten und dennoch verehrten Helden unserer Geschichte? Ist es angesichts ihrer Beispiele möglich, das Gewissen als absolutes Kriterium für das Gute anzusehen? Oder zeigt sich eher, dass das Gewissen entgegen aller Verehrung in den Ruhmeshallen der Ethik enorm fehlbar ist? Wenn der Verstand auf vorgefertigte Auffassungen festgelegt ist, die auf Fälschungen und Angst beruhen … dann ist die Funktionsweise des Gewissens an sich bereits schwer beschädigt und das Feld wird reif, für Gier und starrsinnige Ambition, die Oberherrschaft einzunehmen. Die trügerischen, irrigen und angstgeleiteten Schlussfolgerungen, die als „richtige Entscheidungen“ erachtet werden, entpuppen sich als zum Selbstzweck geschlossene Pakte, mit den eigenen Dämonen. Und die kollektive Moral des Gewissens sitzt in der Falle eines ausgefuchsten Netzwerks von Manipulation. „Die Menschheit hat das Netz des Lebens nicht gesponnen. Nichts weiter sind wir, als eines ihrer Fäden. Was wir dem Netz antun, das tun wir uns selbst an.“ Nach einer Ansprache von Chief Seattle (1854) Das Gewissen der Krieger Es war der Winter 1990/91. Ein alter Freund (meines Mannes und nun auch von mir), der seit seinem Schulabschluss in West Berlin lebte, feierte Hochzeit. Wir waren eingeladen. So viele Eindrücke dessen, was gewesen war und wie es nun war und so ganz anders als der Süden Deutschlands, den ich gewohnt war. Einige Jahre zuvor hatte ich in Berlin gelebt und gearbeitet, aber das war eine andere Zeit, eine andere Ära. Nun war die „Mauer“ gefallen und die Stadt befand sich im Frühstadium der Verwandlung – verwirrt, lärmend, turbulent, in einem Zustand offenkundiger Begeisterung. Aber … nicht für alle. Wie eine ausgebleichte Fotographie, die in einer verschlossenen Schachtel auf dem Dachboden gefunden wurde, sehe ich wieder die Bilder der russischen Soldaten vor mir, welche hinter langen Tischen an Straßenecken standen und ihre Ausrüstung verkauften, ihre Orden, Teile der Uniform, alles, was dem neugierigen Touristen als Souvenir aus dieser sehr spannenden Zeit dienen konnte. Alles, was den glücklichen und erleichterten Berliner daran erinnerte, dass diese Zeit endlich, ein für alle mal vorbei war. Alles, was ein wenig Geld einbrachte, um ihre Heimreise zu finanzieren. Die Schwierigkeit ihrer Situation entging mir nicht, als ich in ihre weichen, gutherzigen Gesichter sah; die Augen voll Hoffnung, dass jemand einen der wertlosen Gegenstände kaufen würde aus einem Leben, das sie im Stich gelassen hatte. Es war nicht lange her, da standen sie noch auf ihren Posten. Es war nicht lange her, dass sie den Befehl hatten, jeden zu erschießen, der gegen die geltende Ordnung verstieß. Und es war nicht lange her, da hätten sie es sehr wahrscheinlich auch getan. Aber heute … waren sie traurige, junge Männer, die versuchten, nach Hause zu kommen. In der Innenstadt von Philadelphia, irgendwann Mitte der 80er Jahre. Zwischen Unterrichten und Proben war ich auf dem Weg, mir etwas zu essen zu besorgen. Die Straßen waren abgesperrt wie bei einen Umzug. Einige wenige Leute warteten. Also wartete ich auch. Ich hatte Zeit. Aber es kamen keine feierlichen Blaskapellen, keine versierten Trommler, die komplex abgestimmte Rhythmen spielten, keine farbenfrohen Ballone und keine kostümierten Teilnehmer. Eine Gruppe von Veteranen aus dem Vietnamkrieg marschierte uns entgegen in Reih und Glied. Ich beobachtete sie, damals noch hauptsächlich Männer, wie sie fast in Zeitlupe gingen. Freunde, die Freunde im Rollstuhl schoben. Freunde, die blinden Freunden auf Krücken mit abgetrennten Gliedmaßen dabei halfen, Schritt zu halten und den Marsch zu überstehen. Mein Atem wurde schwer von der Schwere ihrer Gegenwart und ihre Traurigkeit spiegelte sich wider in meinen Tränen. Hier waren sie, Jahre später und zeigten öffentlich ihre verunstalteten Gedanken und Erinnerungen, offenbarten ihre gebrochenen Herzen und noch immer trauernden Seelen und baten darum, nicht vergessen zu werden, baten darum, nicht allein gelassen zu werden, baten um Güte, gleich was sie getan hatten. Was spielt sich im Gewissen von Soldaten ab? Bei denen, die sich freiwillig aus Begeisterung für die Sache melden? Bei denen, die sich als Beschützer des Staats- und Gemeinwesens verpflichten? Bei denen, die glauben, sie hätten keine andere Wahl, die sich melden wegen der Aussicht auf gute Unterkunft, auf bezahlbare Waren und Zugang zu kostenloser Bildung? Oder bei denen, die wissen, dass sie erwachsen werden müssen, aber nicht wissen, wie sie das machen sollen und die sich deshalb beim Militär verpflichten? Und verschmelzen die Interessen und Grundsätze der einzelnen, von diesen unterschiedlichen Ausgangslagen zu einer gemeinsamen Ausrichtung und Orientierung? Wird „ein Soldat“ zu „alle Soldaten“, vereint in kollektiver Wahrnehmung und in Reaktion auf etwas, das zur Bedrohung erklärt wurde? Ist diese kollektive Wahrnehmung ein Werkzeug, bereit, gelenkt zu werden von welcher Autorität auch immer? Wird das Gewissen des Soldaten beruhigt durch die Überzeugung, das er oder sie Teil einer gut geölten Maschine ist, die entwickelt wurde, um schnell zu reagieren sobald danach verlangt wird? Und: ist das genug? Krieg, oder nicht Krieg. Und mit wem und aus welchen Grund. Leben, Körper und Verstand riskieren auf Befehl. Unauslöschlichen Schmerz bringen über… wen auch immer. Einer inkonstanten und schwankenden Autorität folgen. Heute den Liberalen, morgen den Konservativen. Wie auch immer. Irrelevant. Befolge den Befehl, erfülle deine Pflicht, halte die Augen geradeaus und stelle keine Fragen. Aber ihr, die ihr geübt seid in Gehorsam und militärischer Kameradschaft, seid ihr nicht auch Geschöpfe mit Verstand und Mitgefühl, mit der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu analysieren, weil ihr menschlich seid? Sind Rechtschaffenheit und Weisheit nicht euer Erbrecht, weil ihr Menschen seid? Ist das Hinterfragen nicht in eure menschliche Psyche eingebettet, Fragen stellen bis es keine Fragen mehr gibt? Sind nicht Wahrheit und Ruhe ein Erbe, dass euch zusteht? Ihr habt die Kehrseite der Medaille gesehen. Was sagt euer Gewissen? „Ich habe getan, was mein Gewissen mir befohlen hat und man kann nicht scheitern, wenn man nach seinem Gewissen handelt.“ Anita Hill (CBS, 60 Minutes – February 2, 1992) Ein Votum für das Gewissen Die Wahlen rücken immer näher und damit auch die Beleidigungen, die Parteinahme, die Schuldzuweisungen und Beschimpfungen, das Bestimmen von Freund und Feind und Gebietsansprüchen - Etikettierungen, Abspaltungen und Lakmusproben. Anders gesagt: Uns, dem Wahlvolk, steht wieder die unangenehme Aufgabe ins Haus, entscheiden zu müssen, wer in unserem Namen Entscheidungen fällt. Wir hoffen auf unser Gewissen als Entscheidungshilfe. Aber zutiefst geprägt von althergebrachten, mit der Muttermilch aufgesogenen Denkbildern einerseits und gebunden an unsere nationalistische Mythologie andererseits lassen wir dem Gewissen nicht viel Spielraum. Wir akzeptieren die Verteufelung von dritten, vierten und fünften Optionen, weil wir egozentrisch darauf getrimmt sind, jede Sichtweise zu delegitimieren, die nicht mit unserer eigenen übereinstimmt. Wir halten Überlegung und Mitgefühl dem Gewissen fern. Erkenntnis und Analyse werden nur dem eigenen Kreis zugestanden. Aufrichtigkeit und Weisheit werden mit Selbstgefälligkeit und Selbstrechtfertigung vertauscht. Wir sind geteilt… aber geteilt halten wir nicht lange stand. „Das eigene Gewissen zu verraten, ist wie ein Loch in die Seele zu bohren und zuzusehen, wie es sich mit Scham füllt.“ Lib Briscoe – aufgrund eigener Erfahrung Mein Gewissen soll mich leiten* Wenn ich meiner Entscheidung nur sicher sein könnte, ohne Fragen oder Zweifel, keinem Zweck außer meinem dienen könnte, ohne zu Zaudern, in glücklicher Zufriedenheit. Wenn ich zwischen all dem Fingerzeigen, Beschimpfungen und Beschämungen stehen könnte, unbewegt und mit todsicherer Überzeugung, in Erinnerung, dass das Wahlrecht hart erkämpft und hart erfochten wurde und es nicht zulassen würde, dass diese Errungenschaften umsonst gewesen sein sollten – der inneren Stimme, mit ruhiger Sicherheit zu vertrauen. Aber wie? Die Spaltungen sind echt und die Gefahr, Freunde zu verlieren und Angehörige zu verprellen, ist nicht zu leugnen. Vertraute Beziehungen laufen Gefahr, zu wanken und belastet zu werden, weil Meinungsverschiedenheiten sich zu einer Frage der Vereinbarkeit von Grundwerten entwickeln – eine erschütternde Herausforderung, der man sich ausgesetzt sieht. Aber wenn das Wahlrecht heilig ist, dann ist es mein persönliches, heiliges Recht, zu wählen. Es gehört allein mir und meinem Gewissen und niemand sonst hat ein Anrecht darauf. Keine Partei hat ein Anrecht auf meine Stimme, kein aufgestellter Politiker oder Kandidat, auch nicht jene, für die ich mich entscheide. Keine Kommentatoren, keine Journalisten, ob ich nun ihrer Meinung bin oder nicht, haben ein Anrecht auf meine Stimme. Weder meine Familie, noch meine Freunde, nicht jene wundervollen Menschen, die ich sehr liebe und wahrhaftig respektiere und ehre, haben ein Anrecht auf meine Stimme. Sie gehört mir und werde sie so einsetzen wie ich und mein Gewissen es für richtig halten. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass dies eine ernsthafte Verantwortung mit sich bringt – mein Gewissen erinnert mich daran immer wieder. Ich bin verunsichert und nicht ohne Furcht. Aber mein Gewissen verlässt mich nicht, es bleibt - manchmal höchst ärgerlicherweise – präsent. Sie fordert meinen Mut und treibt mich zur Arbeit, sie zerrt an meiner Bequemlichkeit und zwingt mich, aufmerksam zu sein. Wenn wir vereint sind, sucht sie in ständigem Erwägen gemeinsam mit mir nach Wahrheit und Wissen. Sie macht sich die Mühe und hilft mir, über mein eigenes Ich hinauszublicken, damit ich die Fülle über dem eigenen Horizont wahrnehmen kann und erkenne, dass ich nur ein Licht neben unendlich vielen anderen bin. Sie bringt mich in Verbindung mit dem lebendigen Geist, der die Taten und Gepflogenheiten der Böswilligkeit zunichte macht und treibt mich an, die universelle Liebe anzunehmen, die Basis ist für alle Träume der Utopie. Sie ist unerschütterlich. „Es gibt kein weicheres Kissen, als das reine Gewissen.“ Französisches Sprichwort Versuchung packte die junge Frau bei den Schultern und sie gab nach. Das Bild der Gemeinschaft, welche sie aufgab, kam ihr in den Sinn, die Feier, zu der sie nun nicht länger eingeladen sein würde. Als sie ihren Blick auf das Formular vor sich richtete, wurde ihr Atem flacher. Der Bleistift bewegte sich auf die Wahl ihres Gewissens zu und sie setzte ein Kreuz in dem Kästchen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich umdrehte und den Vorhang wieder aufzog. Wie würde sie es ihnen sagen? Würde sie es ihnen überhaupt sagen? Sie beschloss, als Erstes einmal spazieren zu gehen. *Jiminy Cricket, Pinocchio von Walt Disney
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