Vorbereitungen
Takoda Schildkröte trat aus der Öffnung der höhlenartigen Eingangshalle hinaus in das sonnendurchflutete Stadion, das seit Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch und daher überwuchert und von den Menschen, die es einst gebaut hatten, verlassen worden war. Es war nach offiziellen Angaben das Größte seiner Art, hatte er gehört, beeindruckend zwar, aber wie sich wie sich herausstellte, unmöglich zu unterhalten – die Kosten überstiegen die Einnahmen. Das Stadion war selten voll gewesen. Interessant, dachte Takoda, die Menschen waren dem Gemeinschaftsgefühl sicher mehr zugetan, als sie selbst denken mochten. Doch offenbar hatten sich die Geschäftsleute übernommen. Die Menge an Besuchern, die nötig war, um das Stadion zu füllen, war zu groß, um konstant erreicht zu werden. Ihm und den anderen Organisatoren der heutigen Versammlung allerdings passte die Größe für ihre Zwecke perfekt. Er bahnte sich der Länge nach, den Weg durch das Amphitheater, langsam natürlich, denn das war die Geschwindigkeit, mit der die Natur ihn bedacht hatte. Aber er beklagte sich nicht. Es gab ihm Zeit – Zeit zu beobachten, Zeit nachzudenken und abzuschätzen. Er selbst neigte nie zu Hast oder Nachlässigkeit, dafür hatte die Natur gesorgt (obwohl Hast bei einer Schildkröte wohl selten von jemand anderem als von einer Schildkröte wahrzunehmen wäre); und das hatte seine Vorteile, weshalb das Komitee ihn für die anstehende Aufgabe auserwählt hatte. Und er hatte zugesagt. Sein offizieller Titel war “Koordinator”… aber er betrachtete sich eher als einen Fokuspunkt und eine, wie er hoffte, beruhigende Instanz. Er atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Als er die Mittellinie gegen Ende der anderen Seite überquerte, beobachtete er den Eluwilussit Elephanten Clan, der schon seit Monaten hier arbeitete und nun mit den letzten Phasen der Vorbereitungen für die Versammlung am übernächsten Tag beschäftigt war. Die Mitglieder des Clans leisteten, wie immer, großartige Arbeit. Die Wände und Tribünen auf der rechten Seite des Stadions waren herausgeschlagen und mit zwei kollossalen Glasbecken für die Delegation der Meeresbewohner ersetzt worden. Er schnappte nach Luft – es war ein wenig beängstigend, sich diesen Wall von Wasser vorzustellen. Anders als seine Cousins, die die meiste Zeit ihres Lebens mit Schwimmen verbrachten, war er nicht an die ungeheure Weite eines Meeres oder Ozeans gewöhnt. Er hatte im Laufe seines Lebens einige stattliche Gewässer gesehen, aber das hier schien so unnatürlich, was es freilich auch war. Dieses Ereignis war in seiner Gänze unnatürlich. Die Eluwilussit würden sie befüllen, eines mit Salz- das andere mit Süßwasser. Diese Angst, die er verspürte, würde er der wundervollen Kreaturen wegen, die die Behälter füllen würden, wegschieben müssen. Takoda blickte nach links. Entlang der Tribüne, bis dorthin, wo die Konstruktion sich von vorne bis hinten bog, hatten sie frische Waldblätter, Zweige, Erde und Unterholz ausgelegt für das Wohlbefinden der Delegationen der kleinen Waldtiere. Bäume waren für die Delegationen der Vögel errichtet worden, darunter war die Erde gestampft und Blätter und Unterholz für die Hufentiere hinzugefügt worden. Es gab hölzerne Ställe für die domestizierten Tiere, damit sie sich sicher fühlten, angesichts der Nähe zu den Wildtieren, deren Art sie nicht gewöhnt waren. Und es gab einen Bereich mit aufeinandergestapelten Felsbrocken für die Bergbewohner mit Öffnungen für die Reptilien, die kalte, dunke Mulden mochten und als Schutz und Hort für die Insekten. Der Elephantenclan hatte wie immer eifrig und sorgfältig gearbeitet. Takoda nickte jedem einzelnen zu, als er an ihnen vorbeiging, und sie schwangen den Gruß erwidernd ihre Rüssel. Er erreichte schließlich sein Ziel – den Kreis der Versöhnung. Eine beachtliche Eibe, um die zwölf Meter hoch, mit einem gewaltigen Stamm, zierte den Hintergrund. Schwere, dicke Äste beugten sich entlang der urwüchsigen Form herab und schufen so eine neue Verbindung mit der Erde. Andere, mit Laub dicht bewachsene Äste, richteten sich nach oben und nach außen und warfen einen Dom aus Schatten rundherum. Takoda empfand Ehrfurcht in der Gegenwart dieses Baumes. In seinen Wurzeln wohnte die Weisheit der Ahnen, die sie so dringend nötig hatten. Und obwohl der Tod eine Rolle spielte, war die Grundlage seiner immerwährenden Geschichte ewiges Leben und die Verheisung von Auferstehung und Wiedergeburt. Er trat näher. Eine Öffnung am unteren Teil des Stamms, bot Zugang zur düsteren Gewölbegruft des Baumes. Groß genug für zwei Elefanten. Er wunderte sich, wie die Eluwilussit ein solches Gebilde unbeschadet transportieren konnten. Er fragte jedoch nicht danach und ließ seine Verwunderung und Ehrfurcht stehen. Gomda war bereits da und bereitete das Essen zu. Die Mischung aus tropischen Blättern, Früchten und Wasser im Loch am Boden, das mit Palmblättern ausgekleidet war, boten einen willkommenen Anblick. Er war müde von der Reise. Der junge Gibbon sollte sein Gehilfe sein und er war froh darüber. Sie hatten sich auf der Insel in den weiten östlichen Gewässern kennen gelernt und er hatte Gomdas schelmische Art und sein freundliches Auftreten sofort gemocht. Takoda fand seinen weißen Bart und die weißen Augenbrauen im Kontrast zu dem schwarzen Fell atembraubend und seine Bewegungen in den Bäumen schön, grazil und sicher. Sein elegantes Morgenlied weckte täglich den schlafenen Wald. “Ist alles bereit?” fragte Takoda. “Klar, großer Alter, was denkst du?” war die freche Antwort des Gibbon. Takoda kicherte und dachte daran, dass er 200 werden würde, wenn er die nächsten 20 Jahre überstand. Sie saßen beisammen in der Öffnung des Baumes, aßen ein wenig und plauderten, bis die alte Schildkröte seufzte und sagte: „Zeit, die Bäume vorzubereiten.“ Der Haupteil des Kreises der Versöhnung war nach der antiken megalitischen Struktur gestaltet. Jenseits der Erinnerung erbaut, als die Menschheit noch Himmel und Erde verband. Als sie den heiligen Kreis noch ehrten und das Gefühl einer universellen Verwandtschaft noch verspürten. Aber statt Steinen, hatten die Elephanten sieben gerade, junge Eibenbäume gepflanzt, um den heiligen Kreis zu schaffen. Zu Ehren des erneuerten Lebens, der Verwandlung nach dem Tod und antiker Weisheit. Jede um die zwei Meter hoch, die Blätter schirmartig angeordnet - eines dieser Gebilde oben an der Krone wie eine Kappe und vier oder fünf aus dicken Ästen am Stamm herausragend. Ein Podium wurde in der Mitte aufgestellt, mit einer Rampe, die nach hinten ausgerichtet war zur alten Eibe und einer zweiten nach vorne zum Stadion hin. Auf dieser Plattform konnte jedes Geschöpf sein Anliegen ohne Unterbrechung vortragen und kein Lebewesen durfte von den anderen angefallen werden. Sie machten sich an die Arbeit, der eine nutzte die Kraft seines Kiefers, der andere die Geschicklichkeit seiner Hände und Füße, bis jeder Stamm glatt war und eine hellbraune Färbung bekam. Gomda kletterte auf den letzten Baum und ließ sich an einem Arm von einem der kräftigeren Äste baumeln. „Ich flog durch diese Baumkronen am Bauch meiner Mutter. Als junge Gibbons spielten wir Wettspringen und Weitspringen von Ast zu Ast.“ Er hielt inne und blickte in eine ferne Richtung. „Unsere Gemeinschaft gedieh gut in diesen Bäumen, wo wir unsere Nester bauten und aufeinander Acht gaben.“ Takoda sah Gomda voll Trauer und Mitgefühl an. „Ich weiß. Es tut mir Leid. Sie waren einst ein glückliches Zuhause und eine sichere Zuflucht.“ Sie setzten sich an ihren Platz am äußeren Ende zwischen der alten Eibe und dem Kreis und erfrischten sich. Eine Witwe der Eluwilussit kam zu ihnen herüber. „Das Befüllen der Aquarien dauert seine Zeit, aber morgen wird alles bereit sein ,“ informierte sie die beiden. „Vielen Dank, Gnädigste,“ gab Takoda zurück und neigte den Kopf vor ihr. Sie und Takoda sahen sich an. „Wir haben vieles gesehen, du und ich, viel Veränderung und viel Verlust,“ beteuerte sie, „aber das hier hatte ich nicht erwartet.“ „Ich auch nicht,“ gab Takoda leise zurück. Sie wandte sich um, zu gehen, dann drehte sie ihren mächtigen Kopf zu ihm um. „Es gibt keinen anderen Weg?!“ Ob dies Frage war, oder Aussage, das war womöglich ihr selbst nicht klar. „Ich befürchte,“ sagte Takoda in seiner langsamen, überlegten Art, „nein.“ Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Takoda und Gamda aßen, ohne ein Wort zu wechseln. Die Zusammenkunft Die Gorillas kamen am Morgen des nächsten Tages an. Gaho, die Sippenälteste und Wortführerin, brauchte einen Tag um sich auszuruhen. Takoda freute sich, sie zu sehen. Trotz ihrer angsteinflößenden Erscheinung waren die Gorillas , wie er wusste verspielt, ruhig und friedliebend. Gaho hatte, wie er selbst auch, sowohl Freiheit wie Gefangenschaft gekannt – ihre Meinung würde sehr geschätzt werden. Die Gorilla-Delegation suchte sich einen schattigen Platz leicht abseits der Bäume aus und machte aus den bereitgestellten Blättern und dem Unterholz ein weiches Nest für Gahos Wohlbefinden. Im Laufe des Tages, reisten die kleineren Säugetiere und Nager an, alle eilig darauf bedacht, einen sicheren Platz auf den Tribünen zu finden, bevor die großen Katzen und Vögel auftauchen würden. Trotz der Vereinnbarung waren sie noch immer misstrauisch. Der Überlebensinstinkt von Jäger und Gejagten war in ihnen allen tief verwurtzelt. Gomda beobachtete wie sie umherwuselten und raschelten und dachte bei sich, wie dankbar er war, dass er sich sicher in den Bäumen bewegen konnte, bis ihm der ernüchternde Gedanke kam – dass dies seine Familie auch nicht gerettet hatte. Als sich der Tag zu neigen begann, kam die Vogel-Delegation, ob Einzelvertreter, wie Adler oder Eule, oder als Kollektivvertreter, wie die Schar der Staren, alle waren sie sehr darauf bedacht, sich nicht gegenseitig in die Flugbahn zu geraten. Die Notwendigkeit, sich zivilisiert zu verhalten, leuchtete ihnen allen ein. Eine Übereinstimmung, die Geist und Willenskraft erforderte. Nur durch Solidarität konnte ihr Ziel erreicht werden. Sie breiteten sich in den Bäumen aus, die größeren Vögel weiter oben, was die Nager ein wenig verunsicherte, und die kleineren fanden in den tiefer gelegenen Aussparungen der Äste und Blätter Zuflucht. Sie taten ihr Bestes, um sich gegenseitig das zuzugestehen, was jeder an Raum und Wohlbefinden für sich brauchte. Takoda und Gomda begrüßten alle Gruppen wie sie eintrafen und waren froh, dass, bisher jedenfalls, alle Recht und Ordnung einhielten. Keiner hatte Angst vor den beiden, sie genossen von allen Lebewesen am meisten Vertrauen … unter anderem, weil keiner der beiden wirklich Fleischfresser war. Als sie also alle baten, sich für die Nacht zur Ruhe zu legen, da bis zum nächsten Morgen niemand mehr erwartet wurde, taten die Delegationen dies mit relativer Zuversicht. Relativ, doch nicht ohne Wachdienste. Sie konnten und wollten sich nicht von dieser Gewohnheit frei machen. Sicher war sicher und Wachsamkeit war in ihre DNA einprogrammiert. Früh am nächsten Morgen wurden sie alle von einer langsam anwachsenden Erschütterung des Bodens geweckt. Die Stare schnatterten und zwitscherten wirr durcheinander, während der Adler und die Eule losflogen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die kleineren Erdenbewohner wuselten hin und her, hielten mitten in der Bewegung inne und wiederholten dieses Bewegungsmuster von vorne. Panik hatte sie ergriffen. Nirgends konnte man sich verstecken. Gomda sprang instinktiv auf Takodas Panzer und weiter auf eine der Eiben, den höchsten Punkt in unmittebarer Nähe. Takoda sah zu dem zurückkehrenden Adler auf, der sanft krächzte. Nach einem kurzen Moment sagte er: „Die Büffel sind hier, zusammen mit den Gazellen und Rehen, die des Schutzes wegen mit ihnen gemeinsam gereist sind. Sie stürmen nicht. Um Pünktlichkeit zu gewährleisten, reisten sie mit hohem Tempo an, welches sie jetzt zu einem langsamen Marsch reduziert haben.“ Der Boden hörte langsam auf, zu vibrieren. Gomda kletterte vorsichtig herab und sah nervös zur Öffnung hin. Reglos, gleichsam wie festgefroren. Ein gewaltiger Schatten breitete sich aus und die Büffel kamen in Sichtweite. Der große Bitzill vorne weg, kamen sie durcheinander mit Gazellen und Rehen einer nach dem anderen herein. Sie trotteten mit der größten Leichtigkeit, zu der sie fähig waren, hinüber zur Prärie-Fläche und das gesamte Stadion bließ dankbar die Luft aus den gepressten Lungen ) „Achtung!“ kreischte die Eule, „Nach ihnen kommen die Katzen!“ Der Augenblick der kurzen Erleichterung war vorbei und von Neuem machte sich Panik breit. „Sie haben Angst“, sagte Gomda leise zu Takoda, „dass Lallo und Lomahongva ihr Versprechen nicht halten werden… ich übrigens auch!“ Takoda beobachtete den Löwen und den Leoparden, als diese näher traten. „Sie sind in der Tat sehr leise, nicht wahr?“ sagte er besorgt. Er hatte keine Angst vor ihnen. Es gab anderes, wovor man viel mehr Angst haben musste. Aber ihre Anwesenheit verlangte dennoch nach … Achtsamkeit. Als die Raubkatzen ganz bewusst vorbei liefen in Richtung des Kreises der Versöhnung, wichen die Huftiere soweit zurück, wie sie konnten, der Tatsache bewusst, dass sie keine Chance hatten, falls ein Angriff käme. Takoda wartete reglos, als sie schweigend näher traten. Ungefähr einen halben Meter vor der Öffnung des Kreises drehten sie nach Takodas linker Seite hin ab und ließen sich in der Nähe der Wasserbehälter nieder. Eine klare Aussage, dachteTakoda, und wirkungsvoll. Zum Schluss kamen die Meeresbewohner und die domestizierten Tiere. Das war die letzte Aufgabe der Eluwilussit. Sie begleiteten die Hof- und Haustiere zu ihren Ställen. Manche von ihnen hatten solche Angst, dass man sehen konnte, wie sie zitterten. Es war ein deutliches Zeichen ihres Mutes, dass sie überhaupt gekommen waren. Die Tore wurden geschlossen und die Elefanten auf den Wachposten machten sich auf zu ihren Artgenossen und halfen ihnen, die Fuhrwerke mit den Waalen und Delphinen hereinzubringen und - überraschenderweise auch mit einigen Fischen, die es nicht in Ordnung fanden, dass sie ausgeschlossen sein sollten. Sie hatten natürlich Recht. Jene, die Luft atmeten sollten, zur Erleichterung der Kommunikation, die Wortführer sein, aber dennoch hatten sie das Recht, anwesend zu sein, ihre Meinung kund zu tun und abzustimmen. Es war nun Mittag geworden. Sie würden essen und sich ausruhen und dann am späten Nachmittag mit der Versammlung beginnen. Das war ein zeitlicher Kompromiss zwischen den Nachttieren und denen, die ihr Leben tagsüber führten. Sie alle hatten sich darauf geeinigt, dass sie die Entscheidung mit den letzten Lichtstrahlen der Dämmerung fällen würden.
0 Kommentare
Hinterlasse eine Antwort. |
Die Autorinnen
Archiv
Juni 2020
Kategorien |