VOICES FROM A BLACK KITCHEN
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Der Sturm - von Lib Briscoe - Teil 2

7/30/2018

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Die Luft war stickig; stickig, heiß und durchsetzt mit schwarzem Staub. Man konnte ihn fast mit den Händen greifen. Er schmeckte ihn auf der Zunge und er spuckte ihn in zähen Klumpen auf den erdigen Boden. Er war ein junger Mann mit 33 Jahren; doch er fühlte sich nicht mehr jung, er fühlte sich ausgelaugt und verbraucht. Seine Haut war weiß, aber der Staub, der jeden Zentimeter seines Gesichtes, seiner Arme und seiner Brust bedeckte, gab seiner Haut eine eigentümlich gräuliche Färbung. Die Tunnel dagegen waren stockdunkel. Sobald man unten in der Mine war, ließ man das Tageslicht zurück und die einzige Lichtquelle war die Kerze, die man mitbrachte. Kauf sie dir selbst und vergiss sie bloß nicht. Er hasste die Dunkelheit, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Die Löcher, in denen sie arbeiteten und die abgestützt wurden durch hölzerne Balken, welche jederzeit zusammenzubrechen drohten, wenn jemand zu heftig gegen sie stieß, das war der Ort, wo sie die meisten ihrer Tage verbrachten und manchmal auch noch halbe Nächte, wenn sie ihr Soll nicht erreichten. Wenn er seine Vorstellungskraft nicht in Schach hielt, kam es ihm vor, als würden die Wände um ihn herum näher zusammenrücken mit jeder Stunde, die verstrich. Er nahm seine Spitzhacke, holte aus und trieb sie in die Wand. Er hoffte, dass sie nicht über ihm einstürzte – noch so eine Sorge. Vor zehn Monaten hatte er „die Mutter“* sprechen hören. Sie hatte gesagt, sie seien Feiglinge, wenn sie nicht für sich selbst eintreten würden. Sie hatte Recht, obwohl er sich nicht gefühlt hatte wie ein Feigling. Man konnte diesen Job nicht machen, wenn man seine Ängste nicht bezwang. Aber eine Sache machte ihm doch Angst – Hunger. Sie hatten nichts zu essen, wenn sie nicht im Laden der Company einkauften – sie hatten nur die nutzlose, mineneigene Währung. Und eine andere Arbeit hatte er nicht gelernt. Er hatte Angst davor, dass einer von ihnen krank würde und sie hätten nichts, wohin sie sich wenden konnten und er müsste zusehen, wie in der Familie einer nach dem anderen sterben würde. Aber er hatte ihr zugehört und sie hatte noch in einem anderen Punkt Recht gehabt. Jetzt ging es ihnen auch kaum besser – seine Frau hatte zwei Fehlgeburten gehabt wegen der Arbeit in diesen Minen. Sein ältester Sohn, gerade einmal dreizehn, hatte bereits drei Finger verloren. Und nun, seit sechs Monaten arbeitete auch sein Neunjähriger im Tunnel. „Wir brauchen die Kleinen“, hatte der Boss gesagt. „Die Nachfrage wird immer größer“, hatte er gesagt „und wenn wir sie nicht erfüllen, dann tut es jemand anderes.“ In den vergangenen achtzehn Monaten hatte es zwei Explosionen gegeben und einen bösen Einsturz. Dreißig Männer tot, zwei Frauen und acht Kinder. Nach der letzten Explosion hatten sie sich organisiert und waren in Streik getreten. Da hatten die Vorgesetzten die Miliz geholt und sie wurden so brutal zusammengeschlagen, dass sie tagelang nicht arbeiten konnten. Und dann kamen die Streikbrecher, die Schwarzen von weiter südlich. Irgendwo im Inneren wusste er, dass sie nicht schuldig waren. Sie besaßen auch nichts und hatten vermutlich die gleichen Versprechen zu hören bekommen wie er – gute, sichere Arbeit. Aber er hatte alles riskiert und nun sah er alles in Gefahr. Als sie kamen, hatte der Streik an Wirkung verloren. Deshalb richtete er seine Wut gegen sie. Sie hatten ihnen die Arbeitsplätze weggenommen und die Möglichkeit, die Minen sicherer zu machen. Dass sie aufhörten, Kinder zum Arbeiten zu zwingen und dass sie selbst einen Lohn mit Würde verdienen könnten – das war das Wort, das „Mutter“ gebraucht hatte. Und nun hatte sich nichts geändert. Und seine zwei jungen Söhne machten Sklavenarbeit in der Mine, genau wie er. Er sah hinüber, als die Kinder von der Oberfläche hinuntergelassen wurden und er beobachtete, wie sein jüngster Sohn durch den langen Schacht in der Ecke in den unten gelegenen schmalen Tunnel hinabgelassen wurde. Er wusste, dass der Junge Angst hatte und müde war. Er kam jeden Tag mit Prellungen nach Hause und es war nur eine Frage der Zeit, bis er einen Finger, einen Arm oder ein Bein verlor. Da entschied er, dass die Gewerkschaft wiederbelebt werden musste. Es war gefährlich, aber es war auch gefährlich, es nicht zu tun. Die Besitzer waren habgierig und herzlos, verdorben vom Hunger nach Reichtum, den sie all denen wegnahmen, die in den Minen arbeiteten. Seine Feinde waren nicht die rußverdreckten Männer und Frauen, die sich schunden wie er sich schund, um zu überleben, sondern die fein gekleideten Männer, die alles für sich nahmen. Er würde kämpfen, dieses Versprechen gab er sich. In dem Moment hörte er es, die Explosion, dumpf, sich ausbreitend. Kinderschreie folgten der widerhallenden Detonation, die den Boden unter ihnen erbeben ließ. Er versuchte, die Stimme seines Sohnes herauszuhören … aber es gelang ihm nicht. Der Schacht war verschwunden, aber die Schreie dauerten an. Nicht alle waren tot! Sein Herz pochte heftig bis an die Schläfen, als er und andere aus der ersten Schockstarre erwachten, nach vorne sprangen und begannen, mit bloßen Händen zu graben. Die Schreie hielten an. Es gab noch Hoffnung! Er grub verzweifelt, ignorierte seine blutenden Hände… und betete.

Jay war jetzt weit unten in der Straße, doch woher er das wusste, konnte er nicht sagen. Er atmete tief ein in dem Wissen, dass dieses „Phänomen“ bald aufhören würde, aber es war noch nicht vorbei. Jeder Teil seines Körpers fühlte sich verwundet an, als ob jene Blitze ihn tatsächlich überall durchbohrt hätten. Er folgte dem Pfad, der sich neben ihm auftat…

Sie tanzte. Die weiche wildlederne Kleidung bewegte sich sanft über ihrem Körper, während sie ihre Balance in Drehungen und Schritten von einem Bein auf das andere verlagerte, die Arme in zarten Gesten empfangend und schenkend und die kniehohen Lederschuhe geschmeidig im Kontakt mit dem Boden unter ihren Füßen. Ihre faltige Haut verströmte einen Geruch von Salbei und Zedernholz, ihr Kopfschmuck aus bunten Perlen und die Federn, die ihre langen Zöpfe umrankten, bezeugten die ernsthafte Natur ihres Rituals. Sie war kräftig und geschmeidig in ihren Bewegungen, trotz des hohen Alters. Obwohl sie alleine auf der Hocheben war, hatte sie keine Furcht. Ihre Totemtiere beschützten sie und ihre Tiergeschwister wussten, dass sie nichts Böses im Sinn hatte. Ihr zeremonielles Lied von alter Herkunft umfasste ihren gesamten Stimmumfang und sie sang es, bis ihr Bewusstsein das Tor ihrer Vorfahren erreichte. Sie begrüßten ihren Geist und im steinernen Kreis saß sie auf ihrer Fellmatte und hörte zu. Ihnen zueigen war eine Sprache aus Strömen und Wellen und nur im tiefen Traum konnte sie verstehen. „Ein Volk mit gebrochenem Geist wird kommen. Mit sich bringen sie große Veränderung und große Verwüstung. Sie haben das heilige Band mit der Erde vergessen und den Glauben an Verwandtschaft verloren. Sie werden euch nicht sehen und in ihrer Blindheit versuchen, euch, unsere Geschichte und unser Wissen auszulöschen. Was passieren wird, können wir nicht sagen, euch zu retten wird eure Stärke verlangen. Die Erde und ihre Kinder werden sehr krank sein. Erinnert euch… beschützt, aber hasst nicht. Verteidigt… aber richtet nicht Gemetzel an. Sprecht unsere Wege, lehrt sie, gebt sie allen weiter, die bereit sind, zu hören. Verbindet euch mit anderen Wegen, die dem gleichen Gedanken folgen. Bleibt der heilige Pfad!“ Die Vorfahren wurden leise, verfielen in Schweigen und zogen sich zurück. Sie sammelte ihre Sachen in einem Bündel, lud es auf ihren Rücken und sah zum Horizont. Der gewaltige Wald breitete sich unter ihr aus, schön und beständig und sie versuchte sich vorzustellen, wie dieses Land etwas anderes sein könnte, als das, was es in diesem Augenblick war. Obwohl sie wusste, dass es nicht in ihrer Lebenszeit geschehen würde, fürchtete sie sich doch um all ihre Kinder. Sie dankte den Vorfahren für ihre Weisheit und ihr Vertrauen, bat die Kleintiere um Vergebung, ihr zu Hause gestört zu haben und machte sich auf den Weg den Berg hinab zu ihrem Dorf.

Die Straße war nun fast still, einige wenige Lichter tanzten wie liegengelassene Feuerwerkskörper, noch immer unberechenbar, aber nicht bedrohlich. Er war sehr müde, doch es war ihm keine Ruhe vergönnt. Er musste ertragen, wie die in seinen Visionen ertragen mussten. Der offene Pfad befand sich zu seiner Linken. Er konnte weiter geradeaus laufen, die Straße war frei genug… aber er war es nicht. Noch nicht. Die Enscheidung lag jetzt bei ihm. Er wandte sich nach links.

Er sah in den Spiegel des Medizinschrankes. Er war ein Mann mit strähnigen Haaren, blutunterlaufenen Augen und hässlichen Stoppeln in seinem Gesicht. Er war nicht jung, aber er war auch nicht alt – nur ausgelaugt und verbraucht. Er war… sein Vater. Das kalte Wasser, mit dem er sich das Gesicht benetzte, ließ ihn aufstöhnen und ohne sich die Mühe zu machen, sich abzutrocknen, lief er den Flur entlang zu seinem Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett. Er hasste das hier – den Morgen danach. Seine Sicht war verschwommen, sein Hirn schwamm in seinem Kopf, sein Körper schwer wie tote Masse, sein Magen wie saure Milch. Und derzeit passierte es viel zu oft. Er stand langsam auf und wollte… etwas tun. Aber was? Ein Jahr war es jetzt, dass er keine Arbeit hatte. Er setzte sich zurück auf das Bett und ließ einen übel riechenden Rülpser aus seinem Mund. Eine ganze Weile versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was er tun sollte und Wassertropfen fielen auf seine Hände. Gott, ich wollte das nicht! Nichts davon wollte ich! Er war sauer gewesen wegen irgendetwas und hatte seinen Sohn aus dem Haus geworfen. Er hatte ihn geschlagen, er wusste nicht wie oft, und hatte ihn hinausgeworfen. Es hatte furchtbar gestürmt, aber er war zu betrunken gewesen, um es zu bemerken. Benommen wie er war, hatte er den Jungen vergessen und ihn draußen gelassen die ganze Nacht. Heute früh, als er es bemerkte, hatte er die Türe geöffnet und der Junge kam herein, durchnässt und zitternd, zog seinen Schlafanzug an und legte sich in sein Bett. Er stand wieder auf, jetzt wusste er, was er tun musste. Er lief in die Küche und blätterte im Telefonbuch. Jugendamt. Die Mutter des Jungen war seit zwei Monaten verschwunden. Sie würde nicht zurückkommen, das war klar. Er ist mein Sohn, aber ich kann mich nicht um ihn kümmern. Ich kann nichts für ihn tun. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. Die Frau am anderen Ende stellte ihm ein paar Fragen und sagte nach einem kurzen Gespräch, dass noch am gleichen Tag jemand kommen würde. Er weckte den Jungen und sagte, er solle sich anziehen und seine Sachen packen. Er würde gehen. Der Junge fragte die ganze Zeit warum? Wohin? Was war los? Er weinte und sagte ständig, es tue ihm Leid. Aber er beantwortete die Fragen des Jungen nicht. Er sah ihn nicht einmal an. Er schloss die Tür zum Zimmer seines Sohnes, ging in die Küche, setzte sich und wartete, dass jemand kam.

Jay war zurück in seinem Körper und sah zu, wie der Mann zu Boden fiel. Seine Arme hingen an seiner Seite, die Waffe locker in der Hand. Das Adrenalin und der Schwindel waren verflogen, ersetzt – jetzt war sein ganzes Sein niedergedrückt und schwer vor Trauer. Er verstand. Diese Leute, das war seine Vergangenheit, seine Geschichte, ein Teil von ihm und was ihn ausmachte. Sie lebten in seiner DNA – sie waren in sein Sein eingeschrieben und er war eine Konsequenz von ihnen und ihrer Erinnerung. Für ihn waren sie wiedererwacht und hatten ihm das Geschenk der Einsicht gegeben - der Rückschau und, was sicherlich ihr Interesse war: der Vorausschau. Das Mitgefühl, das aus seinem Gewissen ausgeschlossen gewesen war, blockiert und tief unterdrückt in ihm, war mit einem Mal zurückgekehrt. Die Erinnerungen, welche seine Vorfahren geteilt hatten, zwangen ihn, sich selbst zu sehen und zu fühlen. Jetzt konnte er mehr empfinden als Wut und Agression; tiefer als Genugtuung, anderen Schmerz zuzufügen, um seinen eigenen zu spüren. Was jetzt geschehen würde? Seine Vorgesetzten würden ihn festnehmen, vielleicht entlassen, wenn die Reaktionen entsprechend stark waren, vielleicht auch nur vom Dienst suspendieren. Doch schlussendlich, würde nichts geschehen. Das tat es nie. Er würde frei sein, sein Leben zu leben. Aber seine Illusionen von Macht und Überlegenheit waren zerbrochen. Er war benutzt worden und das würde nicht noch einmal geschehen. Er war darauf trainiert worden, sich auf seine schlechtesten Anteile zu konzentrieren, diejenigen, welche gebrochen waren. Er war vereinnahmt worden zum Vorteil von jemand anderem. Aber nun waren die Enttäuschung, die Angst und die Abschottung, welche ihn anfällig gemacht hatten für Kontrolle, in seinen eigenen Händen. Und er würde einen neuen Weg finden. Der junge Mann war tot – eine schmerzhafte, unumkehrbare Tatsache – und jedes verdammt einzelne Mal, wenn er nachts die Augen schloss, würde er ihn zu Boden stürzen sehen. Er wurde der lauten, wütenden Stimmen gewahr, die ihn anschrien, absolut bereit, ihn fertig zu machen. Ein anderer Polizist kam und nahm ihm die Waffe ab, klopfte ihm auf den Rücken und führte ihn zum Einsatzwagen. Als er seinen Kopf senkte, um einzusteigen, bat er seine Vorfahren um Mut.

​
*Mary Harris „Mutter“ Jones
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    Die Autorinnen


    ​Lib Briscoe ist eine darstellende Künstlerin, Schriftstellerin, Lehrerin und Chorleiterin aus Philadelphia, USA. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lennora Esi ist eine darstellende Künstlerin und Schriftstellerin aus Ravensburg, Deutschland. Sie wohnt derzeit bei Ravensburg in Deutschland.

    Lektor: Manfred Bürkle

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