I
Der Mann steht am Fenster und betrachtet tief unten die Straße. Er ist bereits seit einiger Zeit da – eine halbe Stunde, vielleicht eine Stunde. Zeit ist für ihn nicht von Bedeutung … er wartet auf die Stunde der Entscheidung. Er beobachtet die winzigen Figuren, wie sie sich bewegen, mit bloßem Auge kaum erkennbar, nicht zu unterscheiden von einander. Farbe und Form sind aus dieser Höhe nicht zu erfassen / nicht wahrnehmbar. Wie gesagt – diese Dinge sind von keiner Wichtigkeit. Nähe würde seine Einstellungen jenen dort unten gegenüber nicht mildern, eher noch intensivieren. Ob dreißig Stockwerke über ihnen, oder 30 Zentimeter von Ihnen entfernt , für ihn sind sie alle gleich. Er ist ein Psychopath, doch er weiß es nicht. Er ist ein vom Wahnsinn getriebener Manipulierer des menschlichen Verstandes und Herzens und obgleich er seine manipulativen Fähigkeiten akzeptiert, ja sogar zelebriert, die Tatsache, dass er wahnsinnig ist, entgeht ihm. Von seinem Fenster aus beobachtet er jene Tausende unter ihm, wie ein Kind einen Ameisenhügel betrachtet – selbstzufrieden und ohne seine Überlegenheit anzuzweifeln. Ihrem Kommen und Gehen gedankenlos zusehend setzt er ihnen willkürlich Barrieren in den Weg, sieht wie sie kurzfristig in Panik geraten, ihren Kurs wechseln und sich dann in die neue Richtung bewegen, die er zufällig für sie ausgewählt hat. Er könnte sie leben oder sterben lassen – keine Fragen, keine Gefühle, kein Bedauern und keine Reue, es spielt keine Rolle. Es gibt immer genug von ihnen, um seinen Zielen zu dienen. Er leidet auch und besonders an wahnhaften Vorstellungen, und ist sich dessen ebenso erschreckend unbewusst. In seinen Augen steht er weit über jenen unbedeutenden Kreaturen dort unten, höher auf der Skala menschlicher Entwicklung – weiter in geistiger Leistung, ausgestattet mit einem höheren Grad an Raffinesse und analytischer Schärfe. Darum steht er hier und schaut hinunter. Er ist die Verkörperung der Begriffe „erlesener Geschmack“, „Finesse und Feinheit“, „überragende Etikette“, so zumindest seine eigene Einschätzung. Und niemand, niemand widerspricht ihm. Die Sensoren werden durch Bewegung aktiviert und die Türen öffnen sich mit einem leisen Zischen. Ein vornehmer Diener kommt schweigend herein und schiebt einen gold-umrandeten Wagen mit einem eleganten sterlingsilbernen Tee- und Kaffeeservice (das Meissener Porzellan wird nie benutzt), einer Whiskey-Karaffe mit einer feinen, honigfarbenen Flüssigkeit, die in den Sonnenstrahlen glitzert und Scheiben Iberischen Schinkens auf einer silbernen Platte mit Yubari-Melonen und drei Hummer-Frittatas. Der Mann dreht sich nicht um, aber nimmt den vornehmen Diener mit einem Kommentar und einer Frage zur Kenntnis, während er den Blick weiterhin auf die Straße gerichtet hält: „Wenn ich dort unten entlanggehe, riechen alle, die mir begegnen, nach Schweiß, billigen Gewürzen und Parfüm ...“ „Ja, Sir“ ist die automatische, unverbindliche Antwort des Dieners. „Warum riechst du nicht so?“ fragt der Mann. Er dreht sich um und sieht den Diener an. Der vornehme Diener, welcher dabei ist, den Esstisch vorzubereiten, hält einen Moment inne und antwortet: “Ich wasche mich – zwei mal täglich.“ Er behält seinen Tonfall bei. Der Grund für diesen unsinnigen, herabwürdigenden Austausch ist beiden bewusst, obwohl der Mann, so gefangen ist er in seinen Wahnvorstellungen, keine Ahnung davon hat, dass der vornehme Diener ihn durchschaut. Der Austausch sollte ein Beleg der Überlegenheit sein – nicht rassischer Einstufung, das wäre zu primitiv; und nicht der Religion, das ist das Spiel von Leuten mit kindischem Verstand; nicht des Bildungsstandes, das ist dem Zufalls zu sehr überlassen; und ganz gewiss auch nicht im Sinne des Begehrenswerten – er selbst etabliert die Hierarchie der Ästethik in der Welt, indem er das Schönheitsideal beeinflusst und die Bilder aus seiner Vorstellungskraft heraus kreiert. Nein, nicht jene irrelevanten Kategorien … eher eine Art Überlegenheit der Spezies … eine Brut, eine Zucht wenn man so will. Er entstammt einem höheren Rang menschlicher Entwicklung. Er lächelt angesichts dieser „Wahrheit“. Sein Selbst-Betrug ist mit einem Mal beeindruckend und grotesk in seiner Universalität. Der vornehme Diener sieht den Mann wortlos fragend an. „Nein, sonst nichts weiter“, sagt der Mann. Er hat den Moment eines Schattens zwischen ihnen verpasst, so wie er es immer tut. Wieder beeinträchtigen seine Wahnvorstellungen sein Urteil und verschleiern seinen Blick. Das leise Zischen der Tür ist wieder zu hören und der vornehme Diener verlässt den Raum. Der Mann schaut ihm nach mit einer Mischung aus Desinteresse und Verwunderung. 'Der vornehme Diener scheint nie in Eile zu sein und ist doch pünktlich, in allem was er tut. Einige von Ihnen haben doch wertvolle, nützliche Eigenschaften.' II Die drei Männer sitzen stumm da, abwesend und in sich gekehrt. Nur das Geräusch von Gabeln, wie sie die letzten Reste der Frittatas aufkratzen, das Klingen von Löffeln in Teetassen und der Sound von Aaron Coplands „Quiet City“ im Hintergrund sind zu hören – eine Kakophony von Klängen, welche normalerweise im Unterbewussten untergehen, jetzt aber in der dicken Luft im Raum akkustisch verstärkt widerhallen. Wie durch Magie oder telepathische Kommunikation gerufen betritt der vornehme Diener den Raum, um das nun leere Service abzuräumen und nur den Whiskey da zu lassen. Die Männer nehmen weder seine Anwesenheit zur Kenntnis noch seinen Dienst und verpassen den Schatten der wiederkehrt, zwischen ihnen passiert und verschwindet. Das leise Zischen der Tür beim Öffnen und Schließen ist wieder zu hören und als sie alleine sind beginnen sie ihr Gespräch. „Ein Maultier… Asimov's Foundation-Triologie … ein unerwartetes Element.“ „Unerwartet und unerwünscht.“ „Die Zeiten sind prekär.“ „Was uns zu Gute kommt … wenn wir sie kontrollieren. Neid, Misstrauen, Angst, Wut sind enorm. Anders können sie nicht leben.“ „Sie fangen an zu verstehen.“ „Verstehen? Sie sind Schafe, keine eindeutige Richtung ohne uns. Sie werden folgen.“ „Die Zeiten sind prekär. Wir brauchen Ablenkung!“ „Krieg … lenkt ab und ist profitabel.“ „Nein, schon zu ausgeschöpft. Die Jungen müssen erwachsen werden.“ Stille. Ein leichtes Unbehagen macht sich breit … „Das Bewusstsein wächst an. Diese „Maultier“-Figur fokussiert sich auf uns.“ „Wer ist es?“ „Unbekannt, bis jetzt.“ „Uns stehen alle Mittel zur Verfügung“ „In Arbeit … aber bisher ohne Erfolg“ „Wir müssen es wissen … bald.“ „Und dann, wie handeln wir? Eliminieren?“ „Könnte unklug sein … Risiko des Märtyrertums … ermutigt zur Solidarität“ „Skandale? … Haben normalerweise große Wirkung.“ „Und wenn sie oder er sauber ist?“ „Keiner von denen ist sauber!“ Ein Ausbruch eines gedämpften, grotesken Hyänengelächters dann Stille. III Der vornehme Diener hat diese Gespräche schon oft gehört. Sie sind so überzeugt von ihren Fähigkeiten, aus der Bevölkerung Marionetten zu machen, dass sie blind sind für die Fähigkeit des Menschen, seine Menschlichkeit durchzusetzen. Er weiß, es ist das Geld, das sie blind macht. Wenn „Die Furcht das Bewusstsein tötet“* dann tötet übermäßiger Reichtum die Seele. Er hat es schon zu oft gesehen und zu lange. Er denkt an seine Enkeltochter. Das ist für sie – für ihr Lachen, für ihren Scharfsinn, für ihre Neugier, für ihre Phantasie und für ihren Anmut. Er nimmt seine Tasche, die alles enthält, was sein ist und geht zur Türe, zum Flur, zum Aufzug und steigt ein. Die Zeit ist gekommen und eine Entscheidung wurde getroffen. Er betrachtet die Nummern der Stockwerke während er hinunterfährt. Der Aufzug landet im Erdgeschoss und gleichmütig steigt der vornehme Diener aus und verlässt das Gebäude ein letztes Mal. Fortsetzung folgt … * Frank Herbert, Dune, 1965
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